Der Schatz des Dschingis Khan
keinen Zweifel daran, dass das große Rundzelt bewohnt war.
Muriel war hin- und hergerissen. Nach dem langen Ritt in bitterer Kälte freute sie sich, das Zelt zu sehen, und wünschte sich nichts sehnlicher, als hineinzugehen und sich an einem Feuer zu wärmen. Andererseits konnte sie ja wohl kaum einfach reinspazieren. Was, wenn die Bewohner ihr feindlich gesonnen waren? Wenn sie Waffen hatten, würden sie gewiss nicht zögern, diese auch einzusetzen.
Muriel überlegte fieberhaft, was sie tun konnte. Aber wie sie es auch drehte und wendete, das Risiko, auf wenig Gegenliebe zu stoßen, erschien ihr zu groß. So blieb sie unschlüssig auf Ascalons Rücken sitzen und rührte sich nicht, als dieser vor eines der Zelte trat. Er schien bezüglich der Gastfreundschaft der Zeltbewohner weit weniger Bedenken zu haben als sie. Als Ascalon erkannte, dass Muriel nicht von sich aus auf die Menschen zuging, fing er kurzerhand an zu wiehern, so laut und durchdringend, dass es selbst ein schwerhöriger Greis vernommen hätte.
»Ascalon! Bist du verrückt geworden?« Muriel stieß ihrem Begleiter unsanft die Hacken in die Seite. »Los, lauf weg! Sonst …«
In diesem Augenblick wurde die Zeltplane an einer Stelle zurückgeschlagen und ein Junge streckte den Kopf heraus. Als er Ascalon erblickte, wurden seine geschlitzten Augen schlagartig kugelrund. Laut »Mori! Mori!« rufend, verschwand er wieder im Zelt, worauf von innen aufgeregte Stimmen zu hören waren.
»Zu spät.« Muriel seufzte und fragte sich, was jetzt wohl geschehen würde. Dass der Junge »Ein Pferd! Ein Pferd« gerufen hatte, hatte sie mühelos verstanden. Wie immer, wenn sie durch die Zeit ritt und fremde Kulturen besuchte, beherrschte sie auch diesmal die landesübliche Sprache so selbstverständlich, wie sie bei der Ankunft die Kleidung der jeweiligen Völker trug. Diese Begebenheit war sehr praktisch und ersparte ihr auf den Reisen so manche Unannehmlichkeit. Leider verblasste die Wirkung sofort, wenn sie wieder nach Hause kam. Ein Ritt in die Zeit der Römer hätte es ihr ansonsten ermöglicht, fließend Latein zu sprechen, und ihr so manchen Nachmittag mühsamer Paukerei erspart …
Wieder wurde die Zeltplane zurückgeschlagen. Ein grimmig dreinblickender Mongole trat ins Freie, während sich gleich mehrere Frauen und Kinder im Eingang drängten, um zu sehen, was draußen geschah.
»Wer bist du?«, knurrte der Mongole ohne jede Freundlichkeit in der Stimme.
»O... Ojuna«, stammelte Muriel ein wenig zu leise, denn der Wind riss ihr die Worte von den Lippen.
»Wie?«
»Ojuna.« Diesmal gelang es Muriel, etwas lauter und selbstbewusster zu sprechen.
»Woher kommst du?«
»Aus dem Süden.« Muriel rieb sich die rot gefrorenen Hände, hauchte dagegen und sagte: »Dort ist es nicht so kalt.«
Der Mongole ging nicht auf ihren Plauderton ein. »Was willst du hier?«, fragte er barsch.
»Ich suche den Großen Khan.«
»Den Großen Khan?« Zum ersten Mal glaubte Muriel so etwas wie eine Gefühlsregung in den Worten des Mongolen zu erkennen, als dieser fast unmerklich eine seiner buschigen Augenbrauen leicht in die Höhe zog.
»Ja.« Muriel beschloss, das Erstaunen des Mannes zu nutzen. »Tengri, der Gott des Himmels, schickt mich, um seinem Sohn, Dschingis Khan, dieses wunderbare Pferd als Zeichen seiner Anerkennung zu bringen.« Mit diesem einen Satz war eigentlich alles gesagt. Gespannt beobachtete Muriel das Gesicht des Mannes. Sie wusste nicht, ob sie mit ihrer Offenheit zu viel gewagt hatte, aber sie fror erbärmlich und wünschte sich nichts sehnlicher, als in dieses heimelige Zelt schlüpfen zu dürfen. Als der Mann nicht antwortete, beschloss sie, alles auf eine Karte zu setzen, und fügte rasch hinzu: »Zunächst kam ich gut voran, aber dann geriet ich in diesen Schneesturm und habe mich verirrt.« Sie nahm allen Mut zusammen, schaute dem Mongolen fest in die Augen und sagte flehend: »Ich glaubte, sterben zu müssen, aber gerade, als die Not am größten wurde, führte Tengri mich zu deinem Zelt, damit das Pferd und ich gerettet werden.«
Der Mongole ließ sich mit der Antwort Zeit, dann sagte er scheinbar zusammenhangslos: »Ein Frosch, der im Brunnen lebt, beurteilt das Ausmaß des Himmels nach dem Brunnenrand. Es steht mir nicht zu, den Wunsch und Willen des allmächtigen Tengri infrage zu stellen. Wenn er es ist, der dich leitet, bist du in meinem Ger* willkommen.« Er trat zur Seite und vollführte mit der Hand eine einladende Geste.
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