Der Schatz des Dschingis Khan
erhob Muriel sich langsam und folgte ihnen.
»Setzt dich neben mich, Ojuna«, bot das Mädchen fröhlich an, dessen Namen Muriel immer noch nicht kannte, und deutete auf das Kissen zu ihrer Rechten. Der Platz war so gut wie jeder andere und so kam Muriel der Aufforderung gerne nach.
»Ich heiße übrigens Toja«, stellte das Mädchen sich flüsternd vor. »Nara ist meine kleine Schwester. Mein Bruder heißt Görkhan.« Eine der Frauen sah sie streng an und sie verstummte.
Wenig später hatte sich die Familie um das Tuch versammelt. Nur der Mann ließ sich Zeit. Er kam als Letzter dazu und setzte sich schweigend im Schneidersitz auf den freien Platz am Kopfende des ausgebreiteten Tuchs. Da keine weiteren Männer hinzukamen und auch kein Platz frei blieb, kam sie zu dem Schluss, dass der Mongole offenbar alle drei Frauen geheiratet und mit jeder von ihnen Kinder bekommen hatte. Der Gedanke war für sie fremd und mutete sehr seltsam an, aber hier schien sich niemand daran zu stören. Die drei Frauen benahmen sich wie gute Freundinnen und gingen so höflich miteinander um, dass Muriel sich fragte, ob sie denn gar nicht eifersüchtig aufeinander waren.
Als der Mann seinen Platz eingenommen hatte, goss eine der Frauen etwas von der vergorenen Milch in eine flache Schale, stand auf und ging zum Eingang des Zeltes. Wegen des Schneesturms öffnete sie die Plane nur einen Spaltbreit. Muriel konnte sehen, wie sie etwas von der Milch mit den Fingern in den Wind schnippte.
»Was tut sie da?«, fragte Muriel Toja leise.
»Sie opfert den Göttern etwas von unserem Airag und bittet darum, dass wir auch in Zukunft reichlich zu essen haben werden.« Toja schaute Muriel von der Seite an. »Macht ihr das dort, wo du herkommst, denn nicht vor jeder Mahlzeit?«
»Toja!« Der strenge Blick ihrer Mutter – zumindest nahm Muriel an, dass es sich um Tojas Mutter handelte – ließ das Mädchen verstummen und ersparte es Muriel, eine Antwort zu geben. Indes kehrte die Frau von der Tür zurück. Sie ging zum Feuer, nahm eine Schöpfkelle zur Hand und wandte sich dem Kessel mit dem Tschanasan Makh zu. Muriel war fest davon überzeugt, dass der Mann zuerst bedient werden würde, aber sie irrte sich. Mit der Kelle holte die Frau gleich fünf Knochen aus dem Topf, legte sie auf einen flachen Teller und kehrte damit zu den anderen zurück.
»Lass es dir schmecken«, sagte sie freundlich und reichte Muriel den übervoll beladenen Teller.
»D... danke.« Muriel schluckte trocken und versuchte, nicht auf den talgigen Geruch des Hammelfleisches zu achten, der ihr in die Nase stieg. Es war wie zuvor mit der gärigen Milch. Alle schauten sie an und schienen nur darauf zu warten, dass sie von dem Fleisch kostete. Die Gastfreundschaft der Mongolen war wirklich vorbildlich, aber in diesem Augenblick wäre es Muriel wirklich lieber gewesen, wenn sie sich in eine stille Ecke hätte verkrümeln können. So aber bleib ihr wieder nichts anderes übrig, als das Spiel mitzuspielen, um ihre Gastgeber nicht zu kränken. Wehmütig verabschiedete sie sich in Gedanken von ihrem festen Vorsatz, von dem Fleisch so wenig wie möglich zu essen. Dann nahm sie einen der heißen Knochen in die Hand und begann das Fleisch mit den Zähnen vorsichtig herunterzuziehen. Dabei achtete sie peinlich genau darauf, möglichst keinen Knorpel oder eine der Sehnen zu erwischen, die überall hervorschauten. Das Fleisch selbst schmeckte so talgig, wie es roch, und war so zäh, wie sie befürchtet hatte.
Zum zweiten Mal an diesem Tag war Muriel in ein heftiges Duell mit ihren rebellierenden Geschmacksnerven verwickelt, die beharrlich gegen die ungewohnte Kost protestierten und sie drängten, den stinkenden Knochen sofort aus der Hand zu legen. Dass sich die lobenden Worte zum Essen, die sie nach den ersten Bissen lächelnd an die Frauen weitergab, nicht gekünstelt anhörten, grenzte fast an ein Wunder und führte zu ihrer Erleichterung dazu, dass nun auch alle anderen ihr Essen bekamen.
Mit einem Anflug von Neid registrierte Muriel, dass die Kinder nur je zwei Knochen bekamen, während der Mann vier und die Frauen drei Knochen auf ihren Tellern hatten. Offensichtlich war es bei den Mongolen üblich, den Gästen immer die größte Mahlzeit zukommen zu lassen, eine Ehre, auf die Muriel liebend gern verzichtet hätte. Tapfer schlang sie Bissen um Bissen hinunter, ignorierte ihren protestierenden Magen und hoffte, dass niemand bemerkte, wie schwer ihr das Essen fiel. Am Ende lagen
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