Der Schatz des Dschingis Khan
»Tritt ein, stärke dich mit unseren Speisen und wärme dich an unserem Feuer. Mein Sohn wird sich um das prächtige Götterpferd kümmern. Er wird ihm Decken zum Schutz gegen die Kälte geben und etwas von unserem besten Futter, auf dass es dem Großen Khan noch lange Freude bereiten wird.«
Muriel zögerte. Sie wusste nicht, ob sie dem Mongolen trauen konnte, und fürchtete, man könnte versuchen, ihr Ascalon zu stehlen. Sie fing einen Gedanken von Ascalon auf, der sie ermutigte, die Einladung anzunehmen. Doch obwohl sie sich nichts sehnlicher wünschte, als dem beißenden Wind und dem Schneesturm zu entfliehen, fiel ihr die Entscheidung schwer.
Geh!, glaubte sie Ascalon noch einmal in ihren Gedanken drängen zu hören. Diese Menschen sind arm, aber freundlich. Dir wird nichts geschehen.
Muriel seufzte und straffte sich. Sie wollte den Mongolen auf keinen Fall verärgern und fürchtete, dass er es als unhöflich ansehen könnte, wenn sie ihn noch länger auf eine Antwort warten ließ. So gab sie sich einen Ruck und beschloss, darauf zu vertrauen, dass Ascalon sie aus gutem Grund zu dieser Jurte geführt hatte.
»Ich danke dir für deine Gastfreundschaft«, sagte sie und schenkte dem immer noch grimmig wirkenden Mann ein Lächeln. Dann schwang sie sich von Ascalons Rücken, klopfte den Schnee so gut es ging aus ihrer Kleidung und folgte dem Mongolen in das Zelt.
Im Ger
Wärme! Niemals hätte Muriel es für möglich gehalten, dass ihr der warme Luftzug aus dem Innern des großen Rundzeltes ein so euphorisches Glücksgefühl bescheren könnte. Gleichzeitig meldete sich ihr Gewissen, weil Ascalon in Eis und Schnee ausharren musste, während sie es sich im beheizten Ger gemütlich machen konnte. Aber daran ließ sich nichts ändern. Das Rundzelt war viel zu klein, um alle ausgewachsenen Tiere zu beherbergen, auch wenn nahe dem Eingang tatsächlich ein kleines Fohlen auf einem Lager aus Stroh schlief, so wie Nadine es ihr erzählt hatte.
»Hier bitte!« Ein Mädchen mit geflochtenen Zöpfen kam auf sie zu und reichte ihr lächelnd eine Schale mit Milch.
»Danke.« Muriel nahm sie an sich, zögerte aber zu trinken, weil die Milch gärig roch.
»Airag*.« Das Mädchen deutete auf die Schale und nickte Muriel aufmunternd zu – auch die anderen Zeltbewohner: der Mann, drei Frauen, von denen zwei ihre Babys auf dem Arm trugen, und acht Kinder in allen Altersstufen schauten sie erwartungsvoll an. Muriel spürte, dass sie trinken musste. Die säuerlich riechende Milch schien ein Begrüßungsgetränk zu sein. Es abzulehnen, würde die Mongolen gewiss verärgern. Muriel zwang sich zu einem Lächeln, setzte die Schale an die Lippen und versuchte, den scharfen Geruch zu ignorieren, der ihr Alarmsystem für verdorbene Nahrungsmittel aktivierte.
Wenn die Mongolen das trinken, werde ich davon schon nicht sterben, dachte sie bei sich, hielt tapfer den Atem an und stürzte die gärige Milch mit einem Schluck hinunter. Dann lächelte sie wieder, nickte anerkennend und sagte: »Das war gut.« Ein hörbares Aufatmen der Umstehenden begleitete ihre Worte. Und während Muriel noch darum rang, den Brechreiz niederzukämpfen, erkannte sie an den lachenden Gesichtern, dass sie die erste Prüfung bestanden hatte.
Das Mädchen nahm ihr die warme Reitkleidung ab und führte sie zu dem Feuer in der Mitte des Zeltes, über dem in einem großen Topf etwas kochte, das aussah wie bleiche Knochen. »Du bist sicher durchgefroren«, sagte das Mädchen und winkte einen der Jungen herbei, der sofort ein Kissen für Muriel brachte. »Hier kannst du dich aufwärmen, bis wir essen. Es gibt Tschanasan Makh*.«
»Danke, ihr seid sehr freundlich.« Während Muriel sich auf das Kissen setzte und die eiskalten Hände den Flammen entgegenstreckte, warf sie verstohlen einen Blick in den Topf, wo unter den Fettaugen auf der Brühe tatsächlich Knochen zu erkennen waren, an denen noch etwas Fleisch hing. Der Anblick der Fettaugen, die bleichen Knochen und der talgige Geruch nach Hammelfleisch versetzten ihren Magen erneut in Aufruhr und sie nahm sich fest vor, wenn überhaupt, nur ein ganz klein wenig davon zu kosten.
Um sich abzulenken, ließ Muriel den Blick durch das große Rundzelt schweifen, dessen Gerüst im Grunde nicht viel mehr war als ein riesiger Gitterzaun mit einem Überwurf aus einem hellen filzähnlichen Stoff. An den Stellen, an denen der Wind auf das Zelt traf, war die Außenhülle der Jurte zusätzlich mit Fellen verstärkt worden.
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