Der Schatz des Dschingis Khan
Erstaunt stellte sie fest, dass es im Innern eine strikte Aufteilung zu geben schien, obwohl das Zelt nur aus einem einzigen Raum bestand. Die eine Seite schien für die Frauen bestimmt zu sein. Dort befanden sich allerlei Gerätschaften, die für die Hausarbeit nötig waren. Die andere Seite war wohl den Männern vorbehalten. Dorthin hatte sich auch der mürrische Mongole zurückgezogen, während die Frauen sich um die Kinder und das Essen kümmerten. Mit den vielen Kissen wirkte die Männerseite sehr wohnlich.
»Hast du wirklich Tengri gesehen?« Ein Junge, dessen Alter Muriel nur schwer einschätzen konnte, hockte sich neben sie und schaute sie fragend an.
»Nicht wirklich.« Muriel schüttelte den Kopf. Ihr Herz begann heftig zu pochen, denn sie spürte, dass der entscheidende Augenblick nahte, an dem sich zeigen würde, ob die Geschichte, die sie über sich und Ascalon erzählen wollte, auch wirklich glaubhaft war. Sie bemühte sich darum, gelassen zu klingen. »Er hat im Traum zu mir gesprochen.«
»Schade.« Für einen Augenblick wirkte der Junge enttäuscht, aber das Mädchen, das Muriel die vergorene Milch gereicht hatte, wollte mehr wissen. Wie selbstverständlich setzte sie sich zu Muriel und fragte: »Und was hat er gesagt?«
»Er hat gesagt, dass ich aufwachen und das Ger verlassen soll, in dem ich mit meiner Familie wohne. Draußen würde ein Pferd auf mich warten, das von den Göttern selbst zur Erde gesandt wurde, um den Großen Khan auf seinen ruhmreichen Feldzügen zu begleiten.«
»Hat er dir erlaubt, das Pferd zu reiten?«, wollte ein kleines Mädchen wissen, das sich dazugesellt hatte und Muriel mit großen Augen anschaute.
»Na ja. Er hat es mir jedenfalls nicht verboten«, gab Muriel ausweichend Auskunft.
»Woher kommst du?«, fragte der Junge.
»Aus dem Süden.«
»Und wer führt deinen Stamm an?«
»Ich … äh … wir gehören zu keinem Stamm.« Muriel beschloss, dass es besser war, keine Namen zu nennen. Abgesehen davon fiel ihr auch kein einziger Name ein, der irgendwie mongolisch klang. »Meine Eltern sind Fischer«, sagte sie, froh, eine logische Erklärung gefunden zu haben. »Wir können nicht mit den anderen ziehen.«
»Ach.« Der Junge wirkte nicht wirklich überzeugt, aber das Mädchen kam Muriel zu Hilfe. »Sicher hat Tengri dich deshalb erwählt«, sagte sie überzeugt. »Ein Stammesfürst hätte dir gewiss nicht gestattet, das schöne Pferd zum Großen Khan zu bringen, und es für sich beansprucht.«
»Wir wollen auch zum Großen Khan«, warf das kleinere Mädchen ein, stolz, etwas zu dem Gespräch beitragen zu können.
»Sei still, Nara.« Das ältere Mongolenmädchen warf hastig einen Blick über die Schulter. »Vater sagt, wir sollen nicht darüber sprechen.« Nara biss sich auf die Unterlippe und senkte beschämt den Blick.
»Ist das ein Geheimnis?«, fragte Muriel und fügte hinzu: »Keine Sorge. Es ist bei mir sicher.«
»Mein Vater sagt, dass es Krieg geben wird«, erzählte der Junge. »Der große Dschingis Khan ruft alle seine Getreuen zusammen, um mit ihnen gegen die Tanguten* in den Krieg zu ziehen.« Er senkte die Stimme und fügte flüsternd hinzu: »Aber es sind wohl nicht alle bereit, dies zu tun. Vater meint, der Große Khan hat nicht nur Freunde. Deshalb möchte er nicht, dass wir vor Fremden erwähnen, auf welcher Seite wir stehen.«
»Verstehe.« Muriel nickte.
»Eigentlich hätten wir das Lager des Großen Khan schon lange erreichen müssen«, fuhr der Junge fort. »Aber dieser Schneesturm nimmt einfach kein Ende und hält uns hier fest.«
»Dann ist es nicht mehr weit?«, folgerte Muriel.
»Drei Tagesmärsche mit dem Yak*-Karren«, erklärte der Junge. »Für dein Pferd ist es vermutlich nur ein Tagesritt.«
»Wenn sie inzwischen nicht schon weitergezogen sind«, gab das Mädchen zu bedenken.
»Bei dem Schneesturm reitet nicht einmal der Große Khan.«
»Sicher?«
»Ganz sicher.«
»Ja, es ist wirklich ein harter Winter«, sagte Muriel schnell, um einem Streit der beiden zuvorzukommen.
»Winter?« Das Mädchen schaute Muriel kopfschüttelnd an. »Es ist längst Frühling. Der Schneesturm ist nur ein letztes Aufbäumen des Winters. Wenn die Sonne hervorkommt und der Schnee geschmolzen ist, wird die ganze Steppe voll von Blumen sein.«
Eine der Frauen rief zum Essen und ersparte Muriel die Antwort. Während die beiden Mädchen und der Junge aufsprangen und sich einen Platz am Rand eines auf dem Boden ausgebreiteten Tuches suchten,
Weitere Kostenlose Bücher