Der Schatz des Dschingis Khan
vier nicht ganz sorgfältig abgenagte Knochen auf ihrem Teller. Den fünften konnte sie nicht einmal ansehen, ohne dass ihr übel wurde.
»Bist du schon satt?«, fragte Görkhan mit einem sehnsüchtigen Blick auf den Fleischknochen.
»Ja.« Muriel nickte. Es war ihr ein wenig peinlich, dass sie die große Portion nicht hatte verzehren können, andererseits hatte sie ja auch nicht darum gebeten. »Das Tschanasan Makh war ausgezeichnet«, lobte sie das eklige Essen noch einmal. »Aber ich kann wirklich nicht mehr.«
»Es war uns eine Ehre.« Die Frau, die Muriel für Tojas Mutter hielt, schenkte ihr ein Lächeln. »Ein Reisender sollte im Haus seiner Gastgeber nicht hungernd nächtigen.«
»Keine Sorge, ich hungere nicht«, erwiderte Muriel höflich. »Ich fühle mich gesättigt und sehr wohl.« Eigentlich hätte es heißen müssen: Mir ist schlecht und ich möchte mich hinlegen. Aber Muriel riss sich zusammen und hoffte, dass die Übelkeit in ihrer Magengegend irgendwann von alleine verschwand.
»Darf ich dann den Knochen haben?«, fragte Görkhan.
»Gern.« Kaum hatte Muriel das gesagt, grapschte er, den missbilligenden Blick seiner Mutter geflissentlich übersehend, nach dem Knochen. Schmatzend löste er das Fleisch mit den Zähnen von dem Knochen und half mit dem Messer nach, wo es sich schwer lösen ließ. Während Görkhan noch aß, räumten die Frauen das Essen ab.
Muriel war ihnen dafür sehr dankbar. Den Anblick der Essenreste und den unangenehmen Geruch hätte sie nicht mehr lange ertragen können. Von ihrem Platz aus beobachtete sie, wie Tojas Mutter eine dampfende Flüssigkeit mit einer Kelle in kleine Schalen füllte, die sie dann zur Tafel trug. Und wieder war es Muriel, die als Gast zuerst bewirtet wurde. »Möchtest du Tee?«, fragte Tojas Mutter.
»Gern.« Muriel strahlte. Ein Tee war genau das, was ihr strapazierter Magen jetzt brauchte. Am besten Pfefferminztee, dachte sie bei sich, damit werde ich sicher auch diesen furchtbaren Hammelfleischgeschmack los.
Dankbar nahm sie die Schale in Empfang und erlebte erneut eine Enttäuschung. In der Schale war Milch oder etwas, das wie Milch aussah. Darin schwamm grob zerkleinert etwas, das vermutlich Teeblätter waren.
»Das ist Suutei Tsai*«, erklärte Toja, die Muriels Erstaunen zu bemerken schien. »Milchtee mit Salz.«
»Ja, danke.« Muriel nickte gedankenverloren. Sie wusste, dass man von ihr erwartete, das Getränk zu kosten, fürchtete aber, dass dies ihrem ohnehin lädierten Wohlbefinden den Rest geben würde. Milchtee mit Salz klang alles andere als verlockend und sie verfluchte sich im Stillen dafür, nicht dankend abgelehnt zu haben. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Vorsichtig nippte sie an dem heißen Tee und erlebte eine Überraschung. »Der ist wirklich sehr gut«, lobte Muriel und diesmal meinte sie es ernst.
Die erste Nacht
»Und nun erzähle uns von deinem Traum.«
Muriel verschluckte sich an ihrem Tee, als Tojas Vater völlig überraschend das Wort an sie richtete. Sie musste husten und hätte fast die Schale mit dem Tee fallen gelassen. Obwohl es nur logisch war, dass ihre Gastgeber mehr von ihr erfahren wollten, traf die Frage sie völlig unvorbereitet. Um etwas Zeit zu gewinnen, hustete sie ein wenig länger als nötig und überlegte fieberhaft, was sie sagen konnte.
Im Nachhinein ärgerte sie sich über ihre Dummheit. Nachdem sie Tojas Vater draußen von ihrem Traum erzählt hatte, durfte sie sich nicht wundern, wenn er jetzt neugierig war. Schließlich kam hier nicht jeden Tag jemand vorbei, der behauptete, im Auftrag des höchsten Gottes der Mongolen unterwegs zu sein.
Muriel war klar, dass sie die Geschichte von Tengris Pferd noch etwas ausschmücken musste, damit sie glaubwürdig klang, aber jedes Wort wollte gut überlegt sein, schließlich wusste sie kaum etwas über die Mongolen. »Da gibt es nicht viel zu erzählen«, hob sie schließlich an, räusperte sich noch einmal und fuhr dann fort: »An den Traum kann ich mich kaum erinnern, nur an den Auftrag, den ich darin erhielt. Eines Nachts lag ich auf meinem Lager und schlief, als ich plötzlich das Gefühl hatte, auf einem Pferd über den Himmel zu reiten. Überall waren Sterne und der Mond war so nah, dass ich ihn fast berühren konnte. Doch als ich nach unten sah, erkannte ich, dass kein Pferd mich trug. Ich erschrak und fürchtete herunterzufallen, aber dann hörte ich, wie Tengri zu mir sprach. ›Geh hinaus auf die Weide‹, sagte er. ›Dort wirst du ein
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