Der Schatz des Dschingis Khan
zufrieden, was die Steppe ihnen bietet, wenn sie ihre Kräfte messen.«
»Und die Gäste?«, wagte Muriel zu fragen.
»Die auch.« Baku nickte. »Sie bringen sich Teppiche mit, wenn sie nicht die ganze Zeit stehen wollen. Einen Tisch, Bänke und einen Baldachin bekommen nur die Fürsten und der Khan.«
»Ach so.« Muriel überlegte. Baku war so stolz, ihr alles zeigen zu dürfen. Da würde er sicher nicht Nein sagen, wenn …
»Zeigst du mir das Zelt des Großen Khan?«, fragte sie und fügte hastig hinzu. »Meine Familie möchte sicher wissen, wie das Ger des mächtigen Fürsten aussieht, wenn ich nach Hause komme.«
»Natürlich.« Baku schien die Frage nicht mit Ascalon in Verbindung zu bringen. »Komm mit, ich führe dich hin.«
Zum Zelt des Großen Khan war es nicht weit. Keine zehn Minuten, nachdem sie den Platz der Spiele verlassen hatten, fand Muriel sich vor einem prächtigen Ger wieder, das viel größer war als alle, die sie bisher gesehen hatte. Auch ohne Bakus Bemerkung hätte sie sofort erkannt, dass dies das Ger des Mongolenherrschers sein musste. Die Wände waren so weiß wie frisch gefallener Schnee. Rings um den Eingansbereich war die weiße Außenhülle aus Filz mit goldenem Zierrat versehen worden und auch die Wände des Zeltes waren mit farbenfrohen und fantasievollen Mustern geschmückt. Anders als die Rundzelte, in denen Muriel bisher gewesen war, besaß dieses Zelt sogar eine richtige Eingangstür aus Holz, die auf einem leuchtend orangefarbenen Untergrund kunstvolle Bordüren in Blau- und Rosatönen mit verschlungenen Motiven zeigte.
Aber all die Schönheit war nebensächlich, denn Muriel hatte nur Augen für Ascalon. Verstohlen blickte sie mal hierhin und mal dorthin, in der Hoffnung, ihn irgendwo zu entdecken, aber nirgends fand sie auch nur den kleinsten Hinweis darauf, dass er hier gewesen sein könnte.
»Das Ger des Großkhan ist das schönste im ganzen Land«, hörte sie Baku sagen. »Findest du nicht?«
»Doch … ähm, ja … es … es ist wirklich sehr schön.« Muriel war nicht ganz bei der Sache, wollte aber nicht unhöflich sein.
»Suchst du etwas?«, erkundigte sich Baku, dem ihre Zerstreutheit nicht entging.
»Ja … ja, ich … Ich hatte gehofft, den Khan hier zu sehen«, flunkerte Muriel. »Heute Nacht war es so dunkel …«
»Da hast du Pech«, sagte Baku. »Der Großkhan und die Klanführer sind bei Sonnenaufgang zur Jagd ausgeritten und werden sicher nicht vor Sonnenuntergang wiederkommen.«
Deshalb ist Ascalon weit und breit nicht zu sehen, dachte Muriel. Der Große Khan wird es sich sicher nicht nehmen lassen, sein prächtiges Pferd auf der Jagd zu reiten, um damit vor den Klanführern anzugeben. Sie seufzte und ließ die Schultern hängen. »Ich habe Hunger«, sagte sie und gab dem Gespräch damit eine andere Richtung. »Wann gibt es etwas zu essen?«
Baku antwortete nicht sofort, sondern richtete den Blick prüfend zum Stand der Sonne. »Die Frauen müssten das Essen bald fertig haben«, sagte er schließlich und deutete ein Kopfnicken an. »Lass uns zum Ger zurückgehen. Ich bin auch hungrig.«
Die folgenden beiden Tage verliefen ruhig. Die Sonne schien, der letzte Schnee schmolz dahin und auch die Nächte waren nicht mehr so kalt. Muriel konnte förmlich zusehen, wie die Steppe jeden Tag ein wenig grüner wurde. Das junge Gras schoss so schnell in die Höhe, als hätte es nur auf ein paar wärmende Sonnenstrahlen gewartet und die unzähligen gelben Blüten der widerstandsfähigen Hahnenfußgewächse trugen ihren Teil dazu bei, dass die bedrückte Stimmung, die der späte Wintereinbruch bei den Mongolen hinterlassen hatte, sich allmählich entspannte. Überall wurde gelacht und gescherzt, selbst die grimmigen Gesichter der Mongolenkrieger wirkten nicht mehr ganz so unfreundlich.
Wie die Mongolen genoss auch Muriel die Sonne und die Wärme, aber sie war auch ein wenig traurig. Die endlose Weite der erblühenden Steppe unter dem wolkenlosen blauen Himmel schien wie geschaffen für einen schnellen Ausritt zu Pferd. Aber ohne Ascalon blieb ihr nichts anderes übrig, als den Jungen und Mädchen neidvolle Blicke zuzuwerfen, die sich auf ihren Steppenponys halsbrecherische Wettrennen lieferten oder in Reiterspielen ihre Geschicklichkeit maßen. Muriel hätte sich ihnen gerne angeschlossen, wagte aber nicht, nach einem Pferd zu fragen.
Um sich abzulenken, begleitete sie Amra, Venja und Thuy beim Dungsammeln. Diese Arbeit wurde im Lager fast ausschließlich
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