Der Schatz des Dschingis Khan
wie ein Schwur.
Sande-An schmunzelte und wuschelte ihm durch das Haar. »Ja sicher, aber das hat noch viele Sommer Zeit«, sagte sie. »Wir werden ihn alle sehen, wenn die Zeit gekommen ist.«
»So lange warte ich nicht.« Baku stand auf und verließ das Zelt.
»Warum will Baku Tengri denn unbedingt sehen?«, wandte Muriel sich an Sande-An.
»Weil seine Mutter vor fünf Jahren gestorben ist.« Ein Schatten huschte über Sande-Ans Gesicht. »Er trauert immer noch um sie und hadert mit dem Schicksal. Es gibt wohl einiges, das er Tengri gerne sagen würde.« Sie seufzte. »Ich denke, es ist besser, wenn er dem Himmelsgott nicht begegnet, solange er so zornig ist.«
Muriel schaute sich um und erinnerte sich daran, dass in der Nacht noch weitere Frauen im Ger gewesen waren. »Wo sind die anderen Frauen?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
»Sie bereiten das Naadam und das Treffen der Klans vor«, sagte Sande-An. »Es ist das letzte große Fest vor dem Aufbruch. Der Großkhan will sich damit noch einmal der Unterstützung seiner Verbündeten versichern, ehe er in den Krieg gegen die Tanguten zieht.«
»Ein Naadam?« Muriel bemühte sich, echte Begeisterung in der Stimme mitschwingen zu lassen. Von Toja wusste sie, dass ein Pferderennen zum Naadam gehörte. Offenbar war es ein Fest, auf das sich jeder Mongole freute. »Wann ist es denn so weit?«
»Noch eine Handvoll Tage.« Sande-An hob eine Hand in die Höhe und spreizte die Finger ab. Zählen konnte sie offenbar nicht. »Du bist natürlich so lange unser Gast. Kubilay hat gesagt, du kannst gern hierbleiben und dir die ›Drei Spiele der Männer‹ ansehen.«
»Das ist sehr freundlich.« Muriel strahlte. »Ich bleibe gern.«
»Aber es gibt nicht jeden Morgen Khailmag.« Sande-An zwinkerte Muriel zu, nahm deren Teller und erhob sich. »Möchtest du noch etwas?«
»Nein danke.« Muriel schüttelte den Kopf. »Es war gut, aber ich bin so satt wie schon lange nicht mehr.« Sie stand auf und fügte hinzu: »Ich werde mich draußen ein wenig umsehen.« Mit diesen Worten nahm sie ihren langen Mantel an sich, tauschte die dünnen Lederhalbschuhe, die in Kubilays Ger getragen wurden, gegen ihre warmen, fellgefütterten Stiefel und trat aus dem Zelt.
Im Lager
Heller Sonnenschein empfing Muriel, als sie das Ger verließ, und zwang sie für einen Moment, die Augen zu schließen. Da sie nichts sehen konnte, nahm sie die Welt um sich herum mit den anderen Sinnen fast überdeutlich wahr. Gerüche von gekochtem Hammelfleisch, von Pferden, Leder und dem markanten Rauch der Dungfeuer streiften ihre Nase. Das Stimmengewirr ringsumher zeugte von vielen Menschen, die auf engem Raum zusammenlebten, und erinnerte an das Summen eines Bienenschwarms, über dem sich nur hin und wieder laute Stimmen oder vereinzelte Rufe erhoben.
Das Lager war erfüllt von einer Aufbruchstimmung und einer Betriebsamkeit, die sicher auch daher rührte, dass die Mongolen tagelang untätig im Schneesturm hatten ausharren müssen. Die Sonne tat ein Übriges, um sie darin zu unterstützen. Als Muriel die Augen öffnete, sah sie den Boden dampfen. Wie schon am Vortag schmolzen die warmen Sonnenstrahlen den Schnee so rasch dahin, dass man förmlich dabei zusehen konnte. Und obwohl es in der sternenklaren Nacht noch einmal kräftig gefroren hatte, schien die Macht des langen Winters nun endgültig gebrochen zu sein.
Überwältigt von der Vielzahl der Eindrücke, die nach dem langen und einsamen Ritt durch die Steppe nun auf sie einstürmten, schaute Muriel sich um. Das Lager war riesig. So weit das Auge reichte, erstreckte es sich zu beiden Seiten eines kleinen Flusses, der sich munter plätschernd durch die Steppe wand. Helle Rauchfahnen stiegen über den unzähligen Rundzelten auf, die die Mongolen hier errichtet hatten. Jedes Zelt war anders. Dazwischen spielten kleine Kinder. Die Erwachsenen liefen geschäftig umher und auch Pferde prägten das Bild im Lager. Alles wirkte sehr geordnet. Ein jeder schien einer Aufgabe nachzugehen.
Eine Gruppe älterer Mädchen kam an Muriel vorbei. Der strenge Geruch, der ihren Körben entströmte, ließ keinen Zweifel daran, dass sie vom Dungsammeln heimkehrten. Muriel entfernte sich und gelangte auf einen freien Platz, wo sich ein paar ältere Jungen im Bogenschießen übten. Daneben saßen Männer auf Teppichen, die ihre Waffen schärften oder Zügel reparierten und den Jungen hin und wieder etwas zuriefen. Etwas weiter entfernt entdeckte Muriel einige alte
Weitere Kostenlose Bücher