Der Schatz des Dschingis Khan
erhaschte gerade noch einen Blick auf die Gesichter von drei kleinen Mädchen, die sich über sie gebeugt hatten und nun kichernd das Weite suchten.
»Amra, Venja, Thuy! Schämt euch! Jetzt habt ihr sie aufgeweckt.« Die strenge Stimme einer Frau ließ die Mädchen endgültig die Flucht ergreifen. Ein kühler Windzug streifte Muriels Wange, als die drei aus dem Zelt stürmten.
»Verzeih, aber sie haben deine Ankunft in der Nacht verschlafen und waren neugierig.« Die Frau kam näher und setzte sich an Muriels Lager. Sie war noch sehr jung und in Muriels Augen ausgesprochen hübsch, weil sie für eine Mongolin sehr große Augen und ein schmales Gesicht hatte. Irgendwie sieht sie mehr wie eine Indianerin aus, dachte Muriel bei sich, sagte dann aber: »Das macht gar nichts. Daheim habe ich auch eine kleine Schwester, die sehr neugierig ist.«
»Dann ist es ja gut.« Die Frau lächelte. »Ich bin Sande-An«, sagte sie. »Verrätst du mir deinen Namen?«
»Mur … Ojuna«, korrigierte Muriel sich hastig.
»Mur-Ojuna?« Die Frau zog die Stirn kraus. »Das ist aber ein seltsamer Name.«
»Ojuna«, sagte Muriel noch einmal, während sie sich aufrichtete. »Ich heiße Ojuna.«
»Ojuna.« Sande-An nickte zustimmend und fragte dann: »Möchtest du etwas essen?«
»Ja, gern.« Muriel erhob sich und folgte der Frau zum Feuer, wo eine Pfanne mit einer braunen Creme bereitstand. »Oh, Khailmag.« Muriel machte aus ihrer Freude über den Anblick des süßen Breis kein Geheimnis. Von allen Speisen der Mongolen, die sie bisher kennengelernt hatte, aß sie die karamellisierte Creme am allerliebsten.
Sande-An lachte. »Es ist die Lieblingsspeise meiner Kinder«, sagte sie. »Da dachte ich, du magst es sicher auch. Die Mädchen waren sehr glücklich, dass es dir zu Ehren heute Morgen Khailmag gibt.«
»Ich bin auch sehr glücklich darüber.« Muriel nahm den Teller mit dem warmen Brei dankend entgegen und begann zu essen.
»Oh, sie ist schon wach.«
Muriel hatte kaum die Hälfte gegessen, als die Klappe vor dem Zelt erneut zurückgeschlagen wurde. Ein Junge, etwa in ihrem Alter, kam herein und setzte sich so selbstverständlich zu ihr, als würden sie sich schon lange kennen. »Ich bin Baku, Kubilays Sohn«, stellte er sich vor und fragte, ohne eine Antwort abzuwarten: »Hast du den Himmelsgott wirklich gesehen?«
Baku!
Muriel wäre fast der Löffel aus der Hand gefallen, als sie sich dem Gesuchten so unvermittelt gegenübersah. Die Göttin hatte ihr zwar erzählt, dass der Junge ungefähr in ihrem Alter war, davon, dass er der Sohn eines Vertrauten des Khan war, hatte sie jedoch nichts gesagt. Muriel hatte geglaubt, ihn erst mühsam im Lager suchen zu müssen, und konnte nicht fassen, dass es so einfach sein sollte.
»Was ist?«, fragte Baku. »Habe ich dich verärgert?«
»Nein … nein.« Muriel schüttelte hastig den Kopf, als sie bemerkte, dass sie Baku angestarrt hatte. Nun war sie froh, dass die Mongolen eine so kräftige Hautfarbe hatten und niemand sehen konnte, wie sie errötete. »Es war nicht unhöflich. Ich … ich war … nur etwas überrascht.«
»Ach so.« Baku atmete hörbar auf und fragte erneut: »Was ist nun mit Tengri?«
»Er ist mir im Traum erschienen«, wiederholte Muriel das, was sie auch dem Khan schon erzählt hatte.
»Und? Wie sah er aus?«
»Ich weiß es nicht.« Muriel schüttelte bedauernd den Kopf. »Als ich aufgewacht bin, konnte ich mich nicht mehr an den Traum erinnern. Nur daran, was der Himmelsgott mir aufgetragen hat.«
»Dem Khan das Pferd zu bringen«, ergänzte Baku und seufzte. »Schade. Ich hatte gehofft, von dir mehr zu erfahren. Die Schamanen behaupten, mit den Göttern zu sprechen, aber sie erzählen auch nie etwas.«
»Vielleicht vergessen sie die Bilder so wie ich und können sich auch nur an die Botschaften erinnern«, meinte Muriel, die das Gefühl hatte, etwas sagen zu müssen.
»Das glaube ich nicht.« Baku schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Weil der Khan Tengri auch schon gesehen hat.«
»Baku, du weißt, was die Legende sagt«, mischte Sande-An sich in das Gespräch der beiden ein. »Der Urahn unseres Khan war ein von Tengri gezeugter grauer Wolf. Seine Gemahlin war eine weiße Hirschkuh. Da ist es doch kein Wunder, dass der Khan ein besonderes Verhältnis zu den Göttern hat.« Sie lächelte. »Tengri liebt den Khan wie einen Sohn. Sonst wäre er niemals so mächtig geworden.«
»Irgendwann werde ich Tengri auch einmal sehen«, sagte Baku und es klang
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