Der Schatz des Dschingis Khan
gar nicht mehr.
Eines Nachts hörte Sucho, wie etwas an die Zelttür schlug. Als er öffnete, sah er das weiße Pferd vor dem Ger stehen. Sucho stürzte hinaus. Er war überglücklich, doch was er sah, brach ihm fast das Herz. Das weiße Pferd war tödlich verwundet. Sieben Pfeile steckten in seinem Leib. Später erfuhr Sucho, dass es den Khan abgeworfen hatte, als dieser auf ihm reiten wollte. Der war darüber so zornig geworden, dass er seinen Dienern befohlen hatte, das Pferd zu töten. Von Pfeilen tödlich getroffen, war es mit letzter Kraft geflohen, um bei Sucho zu sterben. Dieser versuchte alles, aber er konnte dem Pferd nicht mehr helfen. Am nächsten Tag verendete es.
Sucho war verzweifelt und weinte bittere Tränen. Tag und Nacht konnte er keine Ruhe finden. Immer dachte er nur an sein geliebtes Pferd. Einmal glaubte er, es im Traum lebendig vor sich stehen zu sehen. Es kam ganz nahe zu ihm heran und er streichelte es. »Kannst du dir nicht etwas ausdenken, damit ich immer bei dir sein kann?«, fragte es.
Am nächsten Morgen schnitzte Sucho aus den Knochen des toten Schimmels den Kopf seines geliebten Pferdes und setzte es oben auf den Hals einer Geige, genau an die Stelle, an der die Wirbel sind. Aus den Sehnen machte er die Saiten und nahm das Haar von seinem prächtigen Schweif, um den Bogen zu bespannen. So ist die Pferdekopfgeige entstanden. Immer, wenn Sucho auf der Geige spielte, erinnerte er sich an sein geliebtes Pferd, das so grausam getötet worden war. Er legte all seine Trauer in die Musik und sang dazu schöner als jemals zuvor, bis auch er eines Tages starb und in den endlosen Weiten der Himmelssteppe wieder mit seinem geliebten Pferd vereint war.
»Das ist wirklich eine traurige Geschichte«, sagte Muriel, die die ganze Zeit an Ascalon denken musste. Verstohlen wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel, drehte sich um und sagte: »Du hast recht, Baku. Die Geschichte passt wirklich …« Mitten im Satz brach sie ab. Der Platz neben der Tür war leer. Baku war fort.
Reiter in der Nacht
Muriel ärgerte sich, dass sie sich von der alten Legende so hatte gefangen nehmen lassen. Wenn sie dadurch nun das Begräbnis verpasste, war ihre Mission gescheitert, und alle Mühe wäre vergebens gewesen.
Unter dem Vorwand, noch einmal nach ihrem Hengst schauen zu wollen, verließ sie das Ger, um Baku zu suchen. Im letzten Augenblick dachte sie noch daran, etwas Wasser in einem Schlauch mitzunehmen. Man konnte ja nie wissen …
Draußen war es dunkel. Nur die silberne Mondsichel spendete etwas Licht. Fröstelnd schloss Muriel ihren warmen Mantel. Obwohl die Tage schon frühlingshaft waren, waren die Nächte noch sehr kalt, und wenn es aufklarte, so wie an diesem Abend, manchmal sogar noch frostig. Muriel blieb stehen und schaute sich suchend um. Es war das erste Mal, dass sie nachts allein im Lager unterwegs war, und sie konnte nicht umhin, sich einzugestehen, dass sie sich fürchtete.
Die Begegnung mit dem Wolfsrudel war ihr noch lebhaft in Erinnerung und sie war nicht erpicht darauf, noch einmal etwas Ähnliches zu erleben. Für einen Augenblick erwog sie, ins sichere Ger zurückzukehren, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Baku war irgendwo hier draußen und sie war überzeugt, dass sein heimliches Verschwinden etwas mit dem Großen Khan zu tun haben musste. Vielleicht wusste er mehr als sie. Vielleicht hatte Kubilay ihm, ohne dass sie es mitbekommen hatte, verraten, dass der Khan gestorben war.
Wenn dem so war, war Baku jetzt sicher auf dem Weg, das Begräbnis des Khan heimlich zu beobachten. Ein Ereignis, das Muriel auf keinen Fall verpassen durfte. Es war wichtig, dass sie Baku dorthin begleitete, damit sie ihm den Trank des Vergessens, den sie von der Schicksalsgöttin bekommen hatte, rechtzeitig verabreichen konnte. Außerdem sorgte sie sich auch um Ascalon, denn sie fürchtete, dass die Mongolen ihn tatsächlich töten könnten, damit er den Großkhan im Jenseits über die Himmelssteppe tragen konnte.
Muriel nahm einen tiefen Atemzug, schob ihre Furcht vor den Wölfen beiseite und marschierte los. Sie wusste, wo sie suchen musste. Wenn Bakus Verschwinden wirklich etwas mit dem Khan zu tun hatte, gab es nur einen Ort, an dem er sein konnte – am Ger des Dschingis Khan.
Lautlos wie einer der Wölfe, vor denen sie sich so sehr fürchtete, huschte Muriel durch das nächtliche Lager. An jedem Ger hielt sie kurz inne, spähte in die Schatten und freute sich, wenn aus dem Inneren
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