Der Schatz des Dschingis Khan
seinen Söhnen.«
Diese und andere vage gehaltenen Antworten bekamen die Mädchen, Sande-An und die anderen Frauen zu hören, wenn sie sich nach dem Befinden des Khan erkundigten. Meist gaben sie sich damit zufrieden. Wenn doch eine von ihnen einmal nachzufragen wagte, beendete Kubilay das Gespräch meist mit den Worten: »Genug jetzt. Vom vielen Reden wird der Khan auch nicht schneller gesund.«
Baku beteiligte sich nicht an den Gesprächen. Er schien seine Leidenschaft fürs Schnitzen entdeckt zu haben und arbeitete so verbissen, als könnte er seine trüben Gedanken damit vertreiben. Am dritten Abend nach seinem Gespräch mit Kubilay gesellte Muriel sich zu ihm. »Was wird das?«, fragte sie im Plauderton.
»Erkennst du es nicht?« Baku hielt das Stück Holz ins Licht, damit Muriel es besser sehen konnte.
»Ein Pferd … nein, nur der Kopf eines Pferdes.«
Baku nickte. »Der Kopf für eine Pferdekopfgeige.«
»Du willst eine Geige bauen?«, wollte Muriel wissen.
»Nein, das kann ich nicht. Ich schnitze den Kopf nur, um mich abzulenken.« Baku seufzte. »Die Geschichte dieser Geige ist so traurig, wie ich mich fühle. Das passt sehr gut.«
»Es gibt eine Geschichte dazu?«, fragte Muriel.
»Ja. Kennst du sie nicht?«
»Nein, ich weiß nur, dass sie ihren Namen dem geschnitzten Pferdekopf zu verdanken hat.«
»Seltsam. Erzählen die Alten sie bei euch nicht am Feuer, wenn der Wind abends kalt ums Ger fegt?«
»Nein.« Muriel schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Aber ich würde sie gerne hören. Erzählst du sie mir?«
»Ich fürchte, ich bin nicht sehr gut im Erzählen«, antwortete Baku kopfschüttelnd.
»Dann erzähle ich sie dir.« Sande-An legte Muriel sanft die Hand auf die Schulter. »Komm mit zum Feuer, dann können die Mädchen auch zuhören. Sie lieben diese Geschichte.«
Muriel erhob sich. Eigentlich fühlte sie sich schon viel zu alt, um Märchen erzählt zu bekommen, aber es gab nur wenig Abwechslung im Ger und so nahm sie das Angebot gerne an.
Am Feuer hatten sich die Mädchen schon zu Sande-An gesellt, die sogleich zu erzählen begann:
Vor langer Zeit lebte ein Hirtenjunge namens Sucho in der Steppe. Er war ein Waisenjunge und wohnte bei seiner Großmutter. Sie waren sehr arm und nannten nur wenige Schafe ihr eigen, aber Sucho konnte gut singen. Wenn er abends am Feuer sang, lauschten ihm alle anderen.
Als Sucho siebzehn Jahre alt war, fand er eines Nachts auf dem Heimweg ein weißes wolliges Fohlen. Es war ganz allein und er hatte Sorge, dass es die Wölfe fressen würden. Deshalb nahm er es mit nach Hause.
Die beiden wurden schnell Freunde. Sucho sorgte gut für das Fohlen und es wuchs zu einem wunderschönen und kräftigen Pferd heran. Alle, die es sahen, bewunderten und liebten es, aber Sucho liebte es mehr als alle anderen. Eines Nachts wurde Sucho durch aufgeregtes Wiehern geweckt. Er sprang aus seinem Bett, rannte zur Weide und sah, wie das weiße Pferd die Schafherde mit wirbelnden Hufen vor einem riesigen Wolf verteidigte und ihn vertrieb. Sucho war mächtig stolz auf sein tapferes Pferd und liebte es nun noch mehr als zuvor.
Als der Frühling in die Steppe Einzug hielt, wurde überall die Nachricht verbreitet, dass der Khan ein Pferderennen abhalten werde. Der Gewinner sollte seine Tochter zur Frau bekommen. Sucho war das gleich, aber da seine Freunde ihn dazu drängten, ging er mit seinem geliebten weißen Pferd ebenfalls zum Rennen. Viele kräftige junge Männer auf schnellen Pferden nahmen daran teil. Sie peitschten auf ihre Tiere ein und galoppierten so rasch sie konnten, aber es waren Sucho und sein weißes Pferd, die den Zielposten als Erste erreichten.
Der Khan war entsetzt, als er sah, dass der Sieger nur ein einfacher Hirte war. Er erwähnte nichts mehr von einer Heirat mit seiner Tochter. Er lobte Sucho und bot ihm drei Goldstücke für das weiße Pferd an. Sucho fühlte sich betrogen. Niemals, so sagte er, würde er sein geliebtes Pferd verkaufen. Da wurde der Khan zornig und befahl seinen Dienern, Sucho mit Prügel zu strafen. Der Arme! Von allen Seiten drangen sie auf ihn ein und sie prügelten ihn, bis er das Bewusstsein verlor. Der Khan aber nahm das weiße Pferd mit sich.
Sucho wurde von seinen Freunden nach Hause gebracht. Seine Großmutter pflegte ihn liebevoll und nach kurzer Zeit war er wieder gesund. Er war aber sehr betrübt und sprach kaum ein Wort. Tag und Nacht trauerte er um sein geliebtes Pferd, das der Khan ihm genommen hatte. Singen tat er
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