Der Schatz des Dschingis Khan
grenzte.
Muriel atmete tief durch. Selbst wenn es ihr erlaubt wäre, in diesem Moment hätte sie ohnehin nichts ausrichten können. Die Reiter waren fort und die Klanführer versperrten ihnen noch immer den Weg. An eine Verfolgung war nicht zu denken. Sekunden wurden zu Minuten, die sich wiederum endlos zu dehnen schienen, während die Sorge um Ascalon immer größer wurde. Muriel bemerkte, wie sie nervös auf der Unterlippe kaute, und erwischte sich auch zweimal dabei, wie sie gedankenverloren mit dem Ring der Schicksalsgöttin herumspielte, den sie noch immer unter der Kleidung verborgen an einer Kette um den Hals trug.
Ascalon weiß um die Gefahr und wird gewiss auf sich aufpassen, versuchte sie sich in Gedanken zu beruhigen. Ihm wird schon nichts geschehen.
In diesem Augenblick raschelte es neben ihr und sie sah Baku davonhuschen. Schnell rappelte sie sich auf und lief ihm hinterher. Baku hörte sie kommen und drehte sich um. »Bleib zurück, Ojuna«, sagte er flüsternd. »Es ist zu gefährlich.«
»Wo willst du hin?«, fragte Muriel, obwohl sie die Antwort schon kannte.
»Ich will sehen, was geschieht.«
»Warum?«
»Weil es nicht recht ist, den Khan wie einen räudigen Wolf in der Steppe zu verscharren«, sagte Baku mit leiser, aber fester Stimme. »Er war der größte aller Anführer. Das Volk hat ein Recht darauf, an seinem Grab zu trauern.«
»Seine Söhne werden es dem Volk sicher erzählen«, sagte Muriel. »Später. Nach dem Feldzug.«
»Das glaube ich nicht.« Baku schüttelte den Kopf. »Sie sind machthungrig und ehrgeizig. Sie werden es nicht dulden, dass mein Volk dem toten Khan nachtrauert. Sie wollen, dass man ihn schnell vergisst, damit wir nur ihnen huldigen. Aber das lasse ich nicht zu. Ich werde nicht mitansehen, wie unser geliebter Großkhan vergessen wird. Ich werde das Wissen um sein Grab für mein Volk bewahren.«
»Dann begleite ich dich.«
»Nein.«
»Du kannst mich nicht fortschicken«, behauptete Muriel keck. »Jetzt, wo ich weiß, was du vorhast, könnte ich dich gefahrlos verraten. Nur wenn du mich mitkommen lässt, kannst du sicher sein, dass ich dich nicht verrate, denn dann würde ich mich ja selbst verraten.«
»Hm.« Baku überlegte. Was Muriel gesagt hatte, schien sich ihm nicht sofort zu erschließen. »Also gut«, antwortete er nach einer kurzen Denkpause. »Du kannst mitkommen. Aber sei in Tengris Namen leise.«
Das Gräberfeld
Sie schlichen zwischen den Pferden hindurch, banden zwei, die am weitesten von den Zelten entfernt standen, los und führten sie am Halfter, bis das Lager hinter einer Hügelkuppe verschwunden war. Der Mond meinte es gut mit ihnen. Er hatte sich hinter einer Wolkenbank versteckt, die von Westen herangezogen war, sodass die Nacht noch dunkler wurde.
»Weißt du überhaupt, wohin sie geritten sind?«, erkundigte sich Muriel, während sie aufsaßen.
»Ja.« Baku ließ sein Pferd antraben.
»Und wohin?«
»Das wirst du schon sehen.« Baku ritt schneller. Muriel spürte, dass er nicht mit ihr reden wollte, und bohrte nicht weiter nach. Sie hatte Mühe, ihm zu folgen, denn nachdem der kleine Hengst bei ihrem ersten Ritt durchgegangen war, wagte sie nicht, ihr Pferd anzutreiben. Sie hoffte, dass Baku irgendwann auf sie warten würde, aber er dachte gar nicht daran. Er behielt sein Tempo so unbeirrt bei, als sei er allein unterwegs, und überließ es Muriel, den Anschluss zu halten. Muriel hatte schon bald Mühe, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, aber erst das Heulen eines Wolfes ließ sie ihre Sorge vor einem schnellen Ritt vergessen. Mit anfeuernden »Tschu! Tschu!«-Rufen hieb sie ihrem Pferd die Hacken in die Seite, worauf das Tier sofort lospreschte. Im ersten Augenblick fürchtete Muriel, dass nun alles von vorn losging, aber das Steppenpferd zeigte sich erstaunlich gehorsam und reagierte auch auf Muriels verhaltene und rücksichtsvolle Kommandos. Sie atmete auf und wurde mutiger. Im Galopp schloss sie rasch zu Baku auf. Es gelang ihr sogar, das Pferd neben ihm in einen schnellen Trab wechseln zu lassen.
»Du kannst ja doch reiten.« Baku schaute sie an und grinste. Muriel sagte nichts. Sie war froh, nicht mehr allein zu sein, und versuchte, nicht auf das Heulen des Wolfes zu achten, das sich ganz in der Nähe unheimlich und bedrohlich über der nächtlichen Steppe erhob.
Wie lange sie so nebeneinander herritten, konnte Muriel nicht sagen. In der Dunkelheit hatte sie schnell jedes Zeitgefühl verloren und so kam der Augenblick,
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