Der Schatz des Dschingis Khan
als Baku sein Pferd ruckartig zügelte, für sie so überraschend, dass sie noch ein paar Schritte weiterritt. Dann ließ auch sie ihr Pferd anhalten, wendete und schloss wieder zu Baku auf.
»Was ist los?«, fragte sie im Flüsterton.
»Wir sind da.«
»Wirklich?« Muriel fragte sich, wie Baku das wissen konnte, aber er blieb ihr wieder die Antwort schuldig und sagte nur: »Wir lassen die Pferde hier und gehen das letzte Stück zu Fuß.«
Sie banden die beiden Tiere an die Äste ein paar niedriger Sträucher, die in einer Mulde zwischen den Hügeln wuchsen, und erklommen geduckt laufend eine der Anhöhen. Muriel grübelte immer noch darüber nach, wie Baku im Dunkeln den Weg so sicher hatte finden können, aber oben auf der Hügelkuppe wurde ihr klar, dass er vermutlich nicht zum ersten Mal hier war.
»Runter!« Bakus Warnung wäre nicht nötig gewesen. Muriel hatte den Fackelschein, der die Nacht jenseits des Hügels erhellte, bereits entdeckt. Neben Baku legte sie die letzten Meter bis zur Kuppe auf dem Bauch robbend zurück und spähte dann vorsichtig darüber. Auf der anderen Seite erstreckte sich eine ausgedehnte Ebene, auf der unzählige Steinhaufen aufgeschüttet waren. Alle waren in etwa gleich groß, schmucklos und gewiss nicht natürlichen Ursprungs. Ein Irrtum war ausgeschlossen, vor ihnen lag ein Gräberfeld der Mongolen.
»Ich wusste es«, murmelte Baku neben ihr. »Ich wusste, dass sie ihn hier bestatten würden!«
»Und woher wusstest du das?«, fragte Muriel erstaunt.
»Das hier sind keine Fürstengräber«, erklärte Baku und ballte die Fäuste. »Es ist eine Schande, den Großkhan wie einen gewöhnlichen Hirten zu bestatten. Ein Wunder, dass sie ihm überhaupt sein Pferd mitgeben, damit es …«
Ascalon! Muriel zuckte zusammen, als sei sie geschlagen worden. Baku redete weiter, aber sie hörte ihm nicht mehr zu. Mit den Augen suchte sie hektisch den Umkreis des Steinhügels, den die Krieger bereits errichtet hatten, nach Ascalon ab, konnte ihn aber nirgends entdecken.
Zu spät, dachte sie und fühlte, wie ihr die Tränen kamen, ich komme zu spät. Sie haben ihn bereits getötet.
»Was ist mit dir?«, hörte sie Baku dicht neben ihrem Ohr im Flüsterton fragen. »Stimmt etwas nicht?«
»Ja … Nein … Ich suche das Pferd«, stammelte Muriel, schluckte gegen die Tränen an und schniefte leise. »Ich kann es nirgendwo sehen.«
»Natürlich nicht.« Baku schien das fehlende Pferd nicht zu verwundern. »Es wird neben dem Khan unter den Steinen liegen. Du hast doch selbst gehört, dass sie es töten wollten.«
Nein! Muriel ballte die Fäuste, um nicht laut losschreien zu müssen. Nein. Das durfte nicht sein. Nicht Ascalon! Wenn Baku recht hatte, war sie verloren. Dann würde sie ihre Heimat und ihre Familie niemals wiedersehen und niemals mehr auf Ascalon …
»Seltsam.« Bakus Stimme erreichte sie wie aus weiter Ferne.
»Was?« Dieses eine Wort auszusprechen, kostete Muriel viel Kraft, aber sie musste verhindern, dass Baku Verdacht schöpfte, und zwang sich dazu.
»Sie arbeiten nicht.« Baku deutete mit einem Kopfnicken auf das Gräberfeld. »Der Grabhügel ist erst zur Hälfte fertig, aber niemand schichtet mehr Steine auf. Es sieht fast so aus, als ob sie auf etwas warten.«
»Stimmt.« Jetzt erkannte auch Muriel, dass zehn der Mongolenkrieger im Feuerschein untätig herumstanden.
»Vielleicht ist es ein Ritual«, vermutete sie, weil sie das Gefühl hatte, etwas sagen zu müssen.
»Unsinn.« Baku schüttelte den Kopf. »Sie warten.«
»Und worauf?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Ich dachte, du …«
»Schscht!« Baku legte mahnend den Finger auf die Lippen und lauschte. Auch Muriel horchte in die Dunkelheit. Zunächst hörte sie nichts. Doch dann ertönten in der Ferne plötzlich Hufschläge.
»Tengri sei uns gnädig, wenn das mein Vater ist …« Nun wirkte auch Baku nicht mehr so selbstsicher.
»Aber sie hatten doch beschlossen, die Krieger bei der Rückkehr abzufangen«, flüsterte Muriel ihm zu.
»Ich weiß.« Baku kaute nervös auf der Unterlippe. »Vielleicht haben sie es sich anders überlegt.«
In diesem Augenblick erschienen Reiter im Fackelschein. Die Krieger, die das Grab errichtet hatten, liefen sofort auf sie zu. »Wo ist es?«, fragten sie.
»Es ist fort.« Einer der Mongolen sprang vom Pferd und schüttelte bedauernd den Kopf. »Es war zu schnell für uns, wir konnten es nicht einholen.«
»Dann ist es Tengris Wille, dass es lebt«, sagte ein anderer.
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