Der Schatz des Dschingis Khan
»Wir müssen den Khan ohne sein Pferd bestatten.«
... ohne sein Pferd bestatten. Niemals zuvor hatte Muriel etwas Schöneres gehört. Ascalon war nicht tot. Er war geflohen. Er lebte! Ihr Herz machte vor Freude einen Sprung. Alles würde gut werden.
Auch Baku atmete auf. »Ein Glück, es ist nicht mein Vater«, sagte er. »Das Pferd des Khan ist fortgelaufen. Darauf haben sie gewartet.«
»... ohne sein Pferd vielleicht, aber nicht ohne ein Pferd«, hörte Muriel einen der Mongolen sagen, als Baku geendet hatte. Sie sah, wie er ein Messer zog. »Wenn Tengri ihm das Pferd verweigert, werde ich dem Großen Khan mein bestes Pferd mitgeben, damit er nicht ohne ein Reittier in die himmlische Steppe einziehen muss.«
Die Klinge blitzte auf und Muriel wandte sich hastig ab. Als sie wieder aufblickte, musste sie dabei zusehen, wie vier Mongolen eines der Pferde zu dem Grabhügel schleiften, während die anderen damit fortfuhren, Steine über dem Leichnam des Khan und des Pferdes aufzuschichten.
»Das ist grausam«, sagte sie entsetzt und betroffen zugleich.
»Nein, es ist großmütig«, erwiderte Baku. »Der Große Khan wird es ihm danken. Da bin mir ganz sicher – komm!« Er wandte sich um und machte sich daran, den Hügel hinabzukriechen.
»Jetzt schon?«
»Ich habe alles gesehen, was ich wissen muss.«
»Was hast du vor?«
»Ich habe mir die Lage des Grabes genau eingeprägt«, erklärte Baku. »Ich werde eine Karte davon zeichnen und sie für mein Volk verwahren. Der Große Khan darf nicht vergessen werden. Es ist besser, wir reiten wieder los, ehe uns jemand hier entdeckt.« Er richtete sich auf und lief geduckt zu den Büschen, an denen sie die Pferde angebunden hatten.
Muriel ließ sich Zeit. Sie wusste, was sie jetzt tun musste, und hatte auch schon einen Plan. Nur war sie nicht sicher, ob er funktionieren würde. Sie löste den halb vollen Wasserschlauch von ihrem Gürtel und nahm das kleine Fläschchen zur Hand, das sie die ganze Zeit an einem Lederband um den Hals getragen und unter den Kleidern verborgen hatte. Mit den Zähnen zog sie den Stopfen heraus und ließ die ganze Flüssigkeit in den Wasserschlauch laufen. Als der letzte Tropfen das Fläschchen verließ, begann es fast unmerklich zu leuchten und sich unter Muriels staunenden Blicken aufzulösen, bis sie nur noch ein einfaches Lederband in den Händen hielt. »Cool.« Obwohl Muriel gewusst hatte, dass dies geschehen würde, war sie von dem kleinen Zauber so überwältigt, dass sie den Blick nicht von ihrer Handfläche lösen konnte.
Kostbare Sekunden verstrichen, ehe sie sich wieder an ihre Aufgabe erinnerte. Hastig verschloss sie den Wasserschlauch, schüttelte ihn kräftig und schloss dann zu Baku auf, der schon bei den Pferden wartete.
»Wo bleibst du denn so lange?«, wollte er wissen.
»Ich hatte Durst und habe etwas getrunken.« Muriel hielt ihm den Wasserschlauch hin. »Willst du auch einen Schluck?«
Bitte sag Ja! Sag Ja!, flehte Muriel in Gedanken. Er muss es sofort trinken, hatte die Schicksalsgöttin gesagt, nur dann würden auch die richtigen Erinnerungen gelöscht werden. Und jetzt war sofort.
»Danke!« Baku schien keinen Argwohn zu hegen. »Du bist ja besser vorbereitet als ich«, sagte er, während er den Stopfen des Wasserschlauchs herauszog. »Da muss ich mich ja fast schämen.«
»Das war Zufall«, log Muriel.
»Na dann.« Baku nickte ihr zu und leerte den Wasserschlauch in wenigen Zügen. Muriel konnte nicht glauben, dass alles so glattging. Sie hatte fest damit gerechnet, dass es Schwierigkeiten geben würde, und jetzt, ganz plötzlich, hatte sie ihre Aufgabe erfüllt. Dass der Trank wirken würde, daran bestand für sie kein Zweifel. Richtige Freude wollte sich auf dem langen Rückweg dennoch nicht bei ihr einstellen. Der Tod des kleinen Steppenpferdes ging Muriel nicht aus dem Kopf und das Wissen darum, dass auch die Mongolenkrieger getötet werden würden, um die Lage des Grabes geheim zu halten, machte alles noch viel schlimmer. Sie kam sich vor wie eine Verräterin, und obwohl sie sich immer wieder sagte, dass sie nicht in den Lauf der Geschichte eingreifen durfte, wollte das Gefühl nicht weichen.
Schweigend ritt sie neben Baku her, der offenbar seinen eigenen Gedanken nachhing und nicht reden wollte. Einmal glaubte Muriel, in der Ferne den Schatten eines großen Pferdes zu sehen, das sie in sicherer Distanz begleitete. Ihr Herz schlug schneller und für einen Moment spürte sie einen Anflug von Freude, als
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