Der Schatz des Störtebeker
in der Diele unter den Mänteln und wählte die Nummer ihrer Mutter.
»Hallo Mom, ich bin’s.«
»Kannst du nicht deutsch mit mir reden?«
»Sag mal, hat Papa, ich meine Jens, sich zufällig bei dir gemeldet?«
»Nein, warum sollte er?«
»Nur so. Ich bin gerade hier bei ihm, aber er ist verschwunden.«
»Du bist wo?«
»In Heeßel, aber er ist nicht da.«
»Was zum Teufel machst du in Heeßel? Heute Abend ist der Faschingsball im Atlantic. Ich warte schon die ganze Zeit auf dich. Ich hab dir ein wundervolles Kostüm von Meiers in Blankenese besorgt, du wirst begeistert sein.«
»Ich war noch nie begeistert von deinen Kostümideen, Mom. Aber hör mal, ich mach mir Sorgen wegen Jens. Er ist weg, und ich kann ihn nicht finden.«
»Erzähl mir mal was Neues, Herzchen.«
»Nein, im Ernst jetzt. Sogar mein Teddy und meine Puppe…«
»Annagreta, ich bestehe darauf, dass du heute Abend Punkt achtzehn Uhr hier vor der Tür stehst! Andernfalls werde ich mir ernsthaft überlegen, ob ich einer Tochter, die sich mir ständig zu entziehen versucht, wirklich einen USA-Aufenthalt finanzieren soll. Zumal ich der Ansicht bin, dass England näher liegt. Auch dort kann man Sprachstudien betreiben.«
»Aber Mom, es geht nicht um Sprachstudien.«
»So? Um was denn? Darüber müssen wir wohl auch noch reden.« Marie-Christin Discher stöhnte laut auf.
Greta biss die Zähne zusammen, um nicht laut loszuheulen. Ihre Mutter verstand sich aufs Erpressen, das hatte sie schon oft genug am eigenen Leib erfahren. Diese gottverdammte pseudohanseatische und schein-noble Kostümparty im Atlantic war das langweiligste Faschingsfest der Welt. Greta musste jedes Jahr mitkommen, weil ihre Mutter ein Familienmitglied zum Repräsentieren brauchte, und Papa, ich meine Jens, war alles andere als vorzeigbar. Außerdem weigerte er sich seit zwölf Jahren, die Kommandos seiner Ehefrau zu befolgen. Seit dem Tod ihrer Mutter nahm Marie-Christin ihre Tochter zu diesem Ereignis mit. Greta bekam teure Kostüme verpasst – inzwischen hatte sie schon alles zwischen Scheherazade und Flamencotänzerin durchprobiert – und musste mit schnöseligen Bürgersöhnchen Walzer oder Slowfox tanzen.
»Okay, Mom, ich bin dann um sechs bei dir.«
»Ich bitte darum.«
Greta legte das Telefon weg und fluchte: »Scheiße! Warum hab ich nicht alles auf das Wetter geschoben. Schneesturm, unpassierbare Straßen, Sturmflut.« Sie blickte nach draußen. Das Schneetreiben hatte aufgehört. Die Wolkendecke war aufgerissen, und die Sonne strahlte so scheinheilig, als sei sie eine Verbündete ihrer gottverdammten Mom.
In der Küche lag der Autoschlüssel zwischen verschiedenen Tütensuppenpackungen auf dem Boden. Sie hob ihn auf und fasste einen blitzschnellen Entschluss: zurück nach Hamburg! Mit dem Wagen. Sollte er sich doch mit dem Traktor rumquälen, wenn er zurückkam.
Sie zog sich ihre Schuhe wieder an, stapfte durch den pappigen Schnee zur Scheune und stieg in den Renault. Der Motor sprang problemlos an.
Als sie Hemmoor durchquerte, fragte sie sich noch einmal kurz, was bloß mit ihrem Teddy und ihrer Puppe passiert war. Na was soll’s, albernes Kinderspielzeug.
In Stade geriet sie in einen Stau und spürte, wie die Wirkung der Mousse au chocolat verging. Der Blutzuckerspiegel sank rapide, ihr wurde flau im Magen. Jetzt was Gesundes, Nussschokolade zum Beispiel. Sie beugte sich nach rechts und klappte das Handschuhfach auf. Irgendwelche Papiere fielen heraus. Sie kramte darin herum. Keine Schokolade. Keine Bonbons. Nicht mal Gummibärchen oder Lakritz. Sie klaubte alles heraus und warf es auf den Boden. Zum Schluss ertastete sie etwas Kaltes, Glattes. Eine Brosche in Form einer Hansekogge. Was war das denn?
Hinter ihr wurde gehupt. Sie ließ das Ding fallen und gab Gas.
23. FEBRUAR ABENDS
»Ach nee, das ist doch bescheuert!«
»Jetzt mach mir hier keine Szene, Greta. Du hättest dich ja früher darum kümmern können.«
»Eine Piratenbraut? Das ist doch total einfallslos.«
»Das Motto des Balls lautet ›Die sieben Meere‹, und du willst doch immer cool erscheinen. Also dachte ich mir, eine Verkleidung als Piratenbraut käme dir entgegen.«
»In diesen lumpigen Klamotten seh ich wohl eher aus wie eine Zigeunerin.«
»Seit wann tragen Zigeunerinnen bretonische Fischerhemden?«
»Ja eben.«
Greta stand vor dem großen kippbaren Spiegel im Ankleidezimmer ihrer Mutter und verzog das Gesicht. Zu dem kunstvoll zerschlissenen roten Rock trug sie eine
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