Der Schatz des Störtebeker
meine Jens, bringen, der sonst immer Wert darauf legte, als hartgesottener Naturbursche zu gelten. Also hatte er sich wieder einmal verspätet.
Obwohl sie daran gewöhnt war, ärgerte sie sich, denn sie schleppte ein paar schwere Bücher in ihrer Umhängetasche mit sich, die sie ihm antiquarisch besorgt hatte. Andererseits gab es Grund zum Optimismus: Das Wetter war so miserabel, dass sie möglicherweise bald eingeschneit sein würden. In diesem Fall könnte sie nicht nach Hamburg zurück, wie sie es mit ihrer Mutter vereinbart hatte. Das dämliche Kostümfest im Hotel Atlantic würde für sie flachfallen. Keine schlechte Perspektive.
Dennoch gruselte es sie bei dem Gedanken, womöglich stundenlang in der tristen Bahnhofshalle herumlungern zu müssen. War alles schon vorgekommen, wenn ihr Vater während einer Morse-Aktion mit irgendeinem Heini am Nordkap oder in Australien vergessen hatte, dass es jenseits des Amateurfunk-Universums noch eine richtige Welt gab.
Sie überquerte das Gleis und ging den Parkplatz ab. Papa, ich meine Jens, war nicht da. Ein Golf GTI und ein Renault Twingo rauschten ab, drei andere Wagen blieben übrig und warteten auf Herrchen oder Frauchen. Sie ging zurück zum Bahnhof. Vielleicht hatte er ja direkt davor oder auf der anderen Seite geparkt, chaotisch, wie er sich manchmal gebärdete.
Nein, auch nicht. Jetzt war sie von oben bis unten mit nassem Schnee beklebt. Sie klopfte ihn ab und wollte gerade in den Bahnhof treten, als ihr ein schlaksiger junger Typ entgegenkam. Den kannte sie doch.
»He, Heiko.«
Er blieb stehen und sah zu ihr hinunter.
»Kannst du mich mitnehmen?«
Hinter ihr fuhr ein Lastwagen vorbei. Heiko sah ihm nach.
»Was?«, fragte er.
»Kannst du mich mitnehmen?«
»Wohin?« Der Lastwagen schien interessanter zu sein als sie. Heiko lächelte ihm wehmütig hinterher. Nein, er winkte. Hatte den Arm leicht gehoben.
»Nach Hause.«
Jetzt sah er wieder sie an. Ratloser Gesichtsausdruck. Dann abfälliges Herabziehen der Mundwinkel.
»Wer bist du denn?«
»Greta. Greta Discher, die Tochter von Jens. Wir wohnen im gleichen Dorf.«
Jetzt schien der Groschen gefallen zu sein. »Soll ich dich mitnehmen?«
»Genau.«
Sie stiegen in einen tiefer gelegten Fiat Punto, auf dessen Rücksitz eine leere Kornflasche lag. Heiko fuhr einen Stil, den man verharmlosend als sportlich bezeichnet. Seine Kommunikationsfähigkeit war gleich null.
»Kommst du von der Arbeit?« – »Jo.«
»Nachtschicht geschoben?« – »Jo.«
»Wo arbeitest du denn eigentlich jetzt?« – Keine Angaben.
»Ich komm gerade aus Hamburg. Eigentlich sollte Papa, also mein Vater, ich meine Jens, mich abholen. Hat’s aber wohl verpennt.« – Kein Kommentar.
»Ist nicht das erste Mal, aber nervig bei dem Wetter.« – Keine Reaktion.
»Gut, dass ich dich getroffen hab.« – »Hmhm.«
Die Unterhaltung erstarb. Dicke Schneeflocken patschten stakkatomäßig gegen die Windschutzscheibe, von der Welt dort draußen war kaum was zu erkennen. Kein roter R5 kam ihnen entgegen, auch kein Traktor.
Heiko steuerte den Punto mit einem kühnen Schwung vor das Scheunentor des Hofs seiner Eltern und stieg aus. Die restlichen fünfhundert Meter durch Matsch und Schneesturm bis ans Ende des Dorfes musste sie allein zurücklegen.
»Danke fürs Mitnehmen.«
»Tschüs.«
Schon beim ersten Schritt landete ihr Fuß in einer Pfütze. Nasse Schneeflocken blieben in ihrem Gesicht kleben. Toll, das Leben auf dem Lande.
Jens Dischers größter Traum war immer gewesen, einen Resthof im Kehdinger Land zu erwerben. Mit möglichst viel Land drum herum und freier Sicht und einem günstigen Platz, um seine riesige Antenne aufzustellen, die gar nicht groß genug sein konnte, um ihm den störungsfreien Funkverkehr rund um den Globus zu garantieren.
Seinen Traum hatte er sich erfüllt. Er war nun stolzer Besitzer eines abgetakelten Reetdachhauses, einer klapprigen Scheune und eines ehemaligen Schweine-und Hühnerstalls, dem noch immer ein unangenehmer Geruch entströmte, obwohl darin seit Jahren keine Tiere mehr gehalten wurden. Der Vorbesitzer hatte vergessen, wie vertraglich vereinbart, die Gülle abzutransportieren, und Jens war einfach zu träge gewesen, sich darum zu kümmern.
Immerhin gehörten fünf Hektar Land zum Hof. Eine große Weide war an einen Nachbarbauern verpachtet, aber der Obstgarten mit den alten Apfel-, Kirsch-und Pflaumenbäumen war eine echte Idylle, die lediglich durch den hohen Sende-und Empfangsmast von
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