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Der Schatz von Dongo

Der Schatz von Dongo

Titel: Der Schatz von Dongo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.E. Hotchner
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als junge Frau von
neunundzwanzig Jahren vorstellen, da ich doch noch immer genauso alt
wie ihr Vater damals war? Nein, nicht genauso alt: Arnoldo war zehn
Jahre älter gewesen als ich.
    Sie mußte in mir den Bösewicht sehen, der ihr den Vater
genommen hatte. Ich konnte für sie doch nur der verschwommene Eindruck
eines Erwachsenen sein, an den sie sich dunkel erinnerte, wie er am
großen Familientisch mit allen zusammen aus der tiefen, weißen Schüssel
Pasta gegessen, wie er vor dem Kamin gesessen, Espresso und Stock
getrunken, mit ihrem Vater diskutiert und gelacht und einmal vor der
Haustür mit ihr auf der Treppe gesessen und ihr die Geschichte von
einer Schnee-Eule erzählt hatte, die von ihm dazu abgerichtet worden
war, auf einem Satz Glöckchen ›Frère Jacques‹ zu spielen.
    Um fünf Uhr kamen die ersten Arbeiter aus
dem Nuvola-Werk, und als eine junge Frau zögernd stehenblieb und zum
Café herüberblickte, bevor sie die Straße überquerte, da wußte ich, daß
es Julietta war. Sie war groß und trug ihr hellbraunes Haar im Nacken
zusammengefaßt. Beim Gehen hielt sie sich zwar ein wenig steif, ihr
Gang selbst aber war leicht und sehr graziös. Das war überhaupt die
hervorstechendste Eigenschaft, die ich an ihr entdeckte: ihre Grazie.
Und als sie näherkam, stellte ich fest, daß das vor allem auf ihre
Gesichtszüge zutraf: graziös, zart, wie aus einem Guß, beherrscht von
weit auseinanderstehenden Augen, die etwas schräg liefen, aber nicht
ganz so rund waren wie bei einem Reh. Die Farbe der Augen konnte ich
noch nicht erkennen, nahm aber an, daß sie grau oder grün
waren – passend zu ihrer Haut, die dunkler war, als ihre Haare
vermuten ließen. Es ist dies ein Charakteristikum vieler Lombarden, die
ihre blond-dunkle Erscheinung von den Renaissanceahnen geerbt haben.
    Sie blieb einen Augenblick an der Tür stehen, und ihr
Renaissancegesicht hielt mich in Bann. Es kostete mich Mühe, vom Tisch
aufzustehen und auf sie zuzutreten.
    »Signorina Disio?«
    Ich führte sie an meinen kleinen, runden Tisch. Sie bestellte
sich einen Negroni. Ihr grünes Seidenkleid zeigte ein ruhiges,
Pucci-ähnliches Dessin, das möglicherweise sogar von ihr selber
entworfen war. Als Schmuck trug sie nur einen altmodischen Ring an der
rechten Hand, der wenig zum Kleid paßte: kleine, in Platin gefaßte
Brillanten. Sie sah mich erwartungsvoll an. Vor Unbehagen zog sich mein
Magen zusammen.
    »Wenn Sie erfahren, wer ich bin, Signorina, werden Sie
bestimmt nicht mit mir sprechen wollen. Aber ich hoffe trotzdem, daß
Sie sich anhören, was ich Ihnen zu sagen habe.«
    »Sie schrieben, Sie wären ein Freund meines Vaters gewesen.«
    »Das war ich auch, obgleich man Ihnen vermutlich das Gegenteil
eingeredet hat. Ich habe ihm nie etwas Böses getan, ganz gleich, welche
Vorstellung Sie sich von den Ereignissen machen. Ich habe eine lange
und grausame Strafe erlitten – ohne ein Verbrechen begangen zu
haben.«
    Sie schaute mich offen an, sie zuckte nicht mit der Wimper,
und ihre Miene war ausdruckslos. Sie sah mich sehr lange an. Dann
wandte sie den Kopf ab und sah auf die Straße hinaus. »Ich habe Ihren
Namen vergessen«, sagte sie, ohne den Blick von der Straße zu wenden.
Sie sprach jetzt englisch – perfektes Englisch mit britischem
Akzent.
    »Paul Selwyn.«
    »Ja.«
    Sie schaute lange auf die Straße hinaus. Ich wollte zu reden
anfangen, aber ich konnte es nicht. Ihr Negroni kam, sie rührte ihn
nicht an. Der Anblick ihres Profils vor dem weichen Licht der frühen
Dämmerung war buchstäblich schmerzhaft. Um ihm auszuweichen,
betrachtete ich statt dessen ihre Hände. Schmale Hände, mit zarten,
aber nicht überlangen Fingern, die Haut durchscheinend klar.
    »Der Hauptgrund, warum ich mit Ihnen sprechen möchte, ist der,
daß ich in all diesen Jahren immer voll Schuldbewußtsein an Arnoldo
gedacht habe. Nicht, weil ich ihn umgebracht hätte – das habe
ich nicht getan; ich habe ihn, nachdem er an jenem Abend die Villa
verließ, nicht wiedergesehen. Nein, meine Schuld besteht darin, daß ich
ihn allein zu einem Treffen gehen ließ, das doch so eindeutig
gefährlich war. Ich versuchte ihn zurückzuhalten. Ich war dagegen. Er
aber blieb fest und wollte unbedingt hin. Ich hätte mitgehen sollen.
Wir waren ein Team, ich war sein Freund. Aber ich fürchtete, daß dieses
Treffen eine Falle war, ein Hinterhalt, und aus dieser Furcht heraus
ließ ich ihn allein gehen. Darin besteht meine Schuld. Darüber habe ich
während der

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