Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
nur mit dem Kopf schütteln, als er an das soeben geführte Gespräch mit seinem Vorgesetzten zurückdachte. Doch lag Lanke wirklich so schief mit seinen Befürchtungen? Der Offiziant selbst war nicht abergläubisch. Wie die meisten Hamburger war er als Lutheraner getauft worden, bezeichnete sich selbst aber als »ungläubigen Thomas«. Boysen machte sich keine tiefschürfenden metaphysischen Gedanken und grübelte auch nicht über das Wesen der Welt und den Lebenssinn nach.
Jedenfalls konnte er sich nicht vorstellen, dass ein Untoter durch das nächtliche Hamburg streifte und den Huren ihr Blut aussaugte. Der Mörder war kein Dämon mit spitzen Zähnen, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Davon war Boysen fest überzeugt. Sein erster Anhaltspunkt war die tote Marie Stevens. Er musste herausfinden, ob es eine Verbindung zwischen dem Straßenmädchen und dem Täter gegeben hatte.
Im gerichtsmedizinischen Institut war die Stimmung gereizt.
»Was will Boysen denn hier?«, hörte er Medizinalrat Schwitters aus dem Nebenraum rufen, nachdem der Ordnungshüter sich nach den Obduktionsergebnissen von Marie Stevens erkundigt hatte. »Na gut, schicken Sie ihn rein, in Gottes Namen!«
Der Offiziant stieß die Schwingtüren auf und betrat das »Allerheiligste«. In dem kühlen Leichensaal herrschte ein beißender Geruch nach Desinfektionsmitteln. Boysen fiel als Erstes auf, dass sämtliche Bahren in dem langgestreckten Raum belegt waren. Die Toten waren wie üblich mit weißen Leintüchern bedeckt. Helfer in langen Kitteln reinigten unaufhörlich den Fußboden und die gekachelten Wände. Boysen bemerkte die ängstliche Verbissenheit, mit der die Männer arbeiteten. Normalerweise ging das Personal entspannt seiner Tätigkeit nach, denn die Toten konnten den Lebenden nicht mehr gefährlich werden.
Es sei denn, sie waren durch eine ansteckende Krankheit ums Leben gekommen.
Medizinalrat Schwitters blinzelte den Offizianten entnervt an. Die Nervosität stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Seit wann sind Sie denn so übereifrig, Boysen?«, knurrte der Leiter des gerichtsmedizinischen Instituts schlechtgelaunt. Boysen hielt dem Blick seines Gegenübers stand.
Seit Inspector Lanke mir befohlen hat, den Mörder des Freudenmädchens unverzüglich zu verhaften.«
»Ja, schon gut«, brummte Schwitters. »Die Halsschlagader des Opfers wurde zerbissen, aber das wird Ihnen Ihr Hafen-Quacksalber auch schon gesagt haben.«
»So ist es, Herr Medizinalrat. Wurde das Mädchen von einem Menschen oder von einem Tier totgebissen?«
»Von einem Menschen, wenn Sie es unbedingt wissen müssen«, räumte der Mann im weißen Kittel ein.
»Das wäre für meine Ermittlungen hilfreich«, gab Boysen ironisch zurück. Die Männer tauschten einen Blick voller gegenseitiger Abneigung. »Und die weiteren Obduktionsergebnisse? Litt Marie Stevens an der Syphilis oder einer anderen Geschlechtskrankheit?«
»Nein, sie war eine der wenigen gesunden Hafenhuren«, meinte der Mediziner. »Das hat ihr aber auch nichts genützt ... Ich vermute außerdem, dass sie dem Schnaps verfallen war. Ihr Gesicht ist noch ganz hübsch, weist aber die typischen verquollenen Züge einer Gewohnheitstrinkerin auf.«
Um seine Worte zu unterstreichen, schob Medizinalrat Schwitters das Leintuch beiseite. Im schmerzhaft hellen Licht der elektrischen Leuchten wurde deutlich, dass er Recht hatte. In der Tatnacht hatte Boysen Maries Gesicht nur in dem trüben Licht seiner Blendlaterne gesehen. Das Leben hatte seine Spuren auf dem jungen Antlitz hinterlassen, aber vor allem der gewaltsame Tod war es wohl gewesen, der Maries leichenstarres Gesicht zu einer Fratze werden ließ. Man benötigte schon viel Fantasie, um sich vorstellen zu können, wie schön sie zu Lebzeiten gewesen war. Doch Boysen litt nicht unter einem Mangel an Einbildungskraft.
»Gibt es sonst noch etwas, das Sie mir sagen können?«, forschte er.
Der Mann im weißen Kittel schüttelte heftig den Kopf. »Wir haben jetzt größere Sorgen als den Tod einer Hafenhure«, sagte er grob.
»Ich habe schon von der neuen Cholera-Epidemie gehört«, gab Boysen trocken zurück. »Ich schätze, Sie können die Toten hier bald stapeln, wie?«
Medizinalrat Schwitters murmelte etwas, das bestimmt keine Freundlichkeit war. Boysen verließ das gerichtsmedizinische Institut. Auf den Straßen herrschte nervöse Unruhe. Als Udel hatte Boysen ein Gespür für so etwas. Der Senat würde gewiss versuchen, die Cholera-Epidemie
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