Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
Hufeklappern der Gespannpferde konnte Anna die furchtbaren Schreie aus dem Inneren des Wagens hören. Wer immer dort abtransportiert wurde, musste unter entsetzlichen Schmerzen leiden.
Die junge Frau war geschockt. Demgegenüber erschienen ihr ihre eigenen Blessuren unbedeutend. Anna hatte sich das linke Knie aufgeschlagen, und ihr Kleid war schmutzig geworden. Aber sie hatte sich schon vor längerer Zeit angewöhnt, bei ihren Besuchen in den Armenvierteln ihre älteste und fadenscheinigste Garderobe anzulegen. Sie kam besser mit den Menschen ins Gespräch, wenn diese nicht sofort bemerkten, dass Annas Familie zu den Bessergestellten in der Gesellschaft gehörte.
Anna warf einen Blick auf ihre Liste, die sie bei der Inneren Mission bekommen hatte. Marie Stevens, Bäckerbreitergang 3 stand da als nächster Name. Die junge Frau klopfte den Straßenstaub von ihrem Kleid. Auf dem Weg zum Bäckerbreitergang machte sie einen Bogen um das Bleichenfleet, denn das faulige Wasser des Kanals verbreitete einen unerträglichen Gestank. Es hatte schon seit Wochen nicht geregnet. Anna empfand starkes Mitleid für die Menschen, die solches Wasser trinken mussten.
Und diese armen Teufel lebten in dem Stadtquartier, das sie nun allmählich betrat. Aber was hieß schon leben? Nach Annas Meinung konnte man das Dasein der Armen in den Gängevierteln eher als Vegetieren bezeichnen. Es gab in diesem Stadtteil noch kein fließendes Wasser wie in Annas Elternhaus in Blankenese. Die Flüssigkeit zum Trinken, Kochen und Waschen wurde von Wasserträgern in die Gängeviertel geschafft. Selbst wenn jemand auf die Idee gekommen wäre, einen Tankwagen dorthin zu schicken – für Fahrzeuge waren die Gassen, die nicht umsonst »Gänge« genannt wurden, unpassierbar. Oftmals waren die Straßen so eng, dass man beide Häuserwände mit den Handflächen berühren konnte, wenn man sich mit ausgestreckten Armen in die Gassenmitte stellte.
Anna war eine sensible junge Frau. Daher bemerkte sie sofort, dass etwas nicht stimmte in den tristen Gängen zwischen Ellerntorbrücke und Kohlhöfen. Normalerweise wimmelte es hier von schmutzigen frechen Kindern, die draußen tobten, weil die winzigen Wohnungen keinen Platz für sie und ihre zahlreichen Geschwister boten.
Doch an diesem Tag war es, als ob jemand überall im Gängeviertel Beruhigungsmittel verteilt hätte. Zwar hielten sich immer noch viele Kinder und auch Erwachsene draußen auf. Es gab zahlreiche Bettler und Erwerbslose, Tagediebe und Streuner. Doch alle diese in Annas Augen bedauernswerten Geschöpfe wirkten wie betäubt.
Da wurde plötzlich eine Haustür aufgestoßen. Zwei schwarz gekleidete Männer mit Zylinderhüten auf den Köpfen kamen heraus. Sie trugen eine Bahre, auf der ein menschlicher Körper lag. Er war mit einem Leintuch bedeckt, doch der bestialische Gestank unter dem Stoff überlagerte sogar den Fäkaliengeruch auf der Straße.
»Die Cholera.«
Anna bekam nicht mit, wer diesen bösen Begriff aussprach. Die junge Frau war noch ein Kind gewesen, als die letzte Cholera-Epidemie Hamburg heimgesucht hatte. Aber aus den Erzählungen ihrer Familie und natürlich aus dem Schulunterricht wusste sie mehr als genug über diese schreckliche Seuche.
Die Armen im Gängeviertel schrien und lamentierten nicht. Sie schienen unter Schock zu stehen. Teilnahmslos und apathisch schauten sie zu, wie die Leichenträger den Toten fortschafften. Aus dem Inneren des Hauses erklang ein leises Weinen und ein Klagechor von hellen Kinderstimmchen. Das war alles.
Anna war stehengeblieben. Sie wusste nicht, was sie nun tun sollte. War es nicht besser, in ihr Elternhaus zurückzukehren? Einen Moment lang rang sie mit sich selbst. Aber dann siegte ihr gutes Herz. Sie sagte sich, dass die Menschen gerade in dieser schweren Stunde Beistand und Erbauung gebrauchen konnten. Anna konzentrierte sich auf ihren Weg und erreichte bald darauf das Haus Nr. 3 im Bäckerbreitergang.
Das Fachwerkgebäude war schmal wie ein Handtuch. Obwohl Anna nicht gerade hochgewachsen war, musste sie sich bücken, um das Gemäuer betreten zu können. Ihr stockte der Atem. Die stickige Luft war beinahe unerträglich für die junge Frau aus Blankenese, die an eine frische Elb-Brise gewöhnt war. Wieder kam das Riechsalz zum Einsatz, um die aufkeimende Übelkeit in ihrem Inneren zu bekämpfen. Es stank nach Kohlsuppe, gebrauchten Windeln, billigen Zigarren und Schnaps. So riecht die Armut , dachte Anna. Nachdem sie sich einen Augenblick
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