Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
am Aktenstaub erstickten. Boysen beneidete keinen von ihnen, obwohl sie alle vermutlich mehr verdienten als ein hamburgischer Polizei-Offiziant. Boysen jedenfalls bekam nur 1.600,00 Reichsmark im Jahr. Doch die Kontore waren in seinen Augen nichts anderes als moderne Kerker. Seine Welt waren die Straßen seiner Heimatstadt Hamburg, die Fleete, die Brücken und die Terrassen. Wenn er dort draußen sein konnte, war er glücklich. Doch leider trieb sich nun eine mörderische Bestie in dieser Welt herum. Der Offiziant musste den tötenden Schauermann unbedingt zur Strecke bringen, um seine innere Ruhe zurückzugewinnen.
Boysen betrat das Stadthaus und ging hoch in die dritte Etage, wo der Kommandant des Constabler Corps residierte. Ein junger uniformierter Sekretär begleitete den Offizianten ins Allerheiligste.
Inspector Wilhelm Lanke saß hinter einem ehrfurchtgebietenden Eichenholzschreibtisch. Durch die gotisch spitz zulaufenden Fenster strahlte das Tageslicht hinein. Von Lankes Arbeitsplatz aus hatte man einen Panoramablick auf die Michaelisbrücke und den Michel. An der Wand hinter Lanke hingen zwei gerahmte Gemälde. Eines stellte Seine Majestät den Kaiser dar, das andere den Ersten Bürgermeister Johann Georg Mönckeberg. Das Bild des Bürgermeisters war selbstverständlich viel größer, denn allzu lange gehörte Hamburg noch nicht zum deutschen Kaiserreich. Wenn es nach Boysen gegangen wäre, hätte die Stadt gerne ihre staatliche Eigenständigkeit behalten können.
Boysens Vorgesetzter erhob sich. Lanke war ein hagerer Mann von undefinierbarem Alter. Sein Waffenrock war mit großen Epauletten versehen, den Schnurrbart trug er nach preußischer Mode hochgezwirbelt. Boysen, der selbst glattrasiert war, hatte den Inspector im Verdacht, eigentlich lieber Offizier beim Heer sein zu wollen. Da der Offiziant Lankes Faible für militärisches Reglement kannte, salutierte er möglichst zackig.
»Polizei-Offiziant Lukas Boysen meldet sich zur Stelle.«
Lanke deutete auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Sehr gut. Nehmen Sie doch Platz, mein guter Boysen.«
Der Offiziant zuckte zusammen. Er hatte eigentlich mit einem Anschiss gerechnet. Wieso war Lanke stattdessen nett zu ihm? Wahrscheinlich wollte der Inspector etwas von ihm. Aber was?
»Zigarre?«
Lanke hielt ihm eine Kiste mit schwarzen brasilianischen Stumpen vor die Nase. Boysen rauchte eigentlich lieber Zigaretten, aber es wäre unklug gewesen abzulehnen. Also nahm er einen der Tabakbalken, schob ihn sich zwischen die Zähne und zündete die Zigarre an. Auch der Inspector blies wenig später blauen Dunst in die Luft.
»Ich habe von Ihrem Leichenfund gehört, Boysen.«
Der Offiziant kniff die Augen zusammen. Und das nicht nur, weil ihm der Zigarrenrauch in die Pupillen geraten war. Lanke war bekannt dafür, dass er das Gras wachsen hörte. Der Inspector hatte seine Zuträger überall im Constabler Corps. Daher musste man immer genau aufpassen, was man sagte. Doch Boysen hatte bisher geglaubt, auf der Brooktor-Wache eine Art Narrenfreiheit zu genießen. Niemand beneidete ihn um diese Position, und solange er seinen Dienst nach außen hin ordentlich verrichtete, konnte ihm niemand am Zeug flicken. Für die Gewaltdelikte im Hafen hatte sich Boysens Vorgesetzter bisher noch niemals interessiert.
»Die Tote hieß Marie Stevens, Herr Inspector. Sie ist vermutlich einer unsittlichen Tätigkeit nachgegangen. Der Fundort der Leiche ...«
»Schön, schön.« Lanke machte eine ungeduldige Handbewegung. »Unter uns gesagt: Niemand weint einer billigen Hure eine Träne nach, Boysen. Wenn es danach geht, können wir den Fall bald abschließen. Was mich wirklich interessiert: Hat Ihrer Meinung nach wirklich ein Vampir das Freudenmädchen getötet?«
»Ein ... Vampir, Herr Inspector?«
Boysen konnte nicht glauben, was er soeben zu hören bekommen hatte. Ob Lanke ihn auf den Arm nehmen wollte? Aber ein Blick in das angespannte Gesicht des Inspectors belehrte ihn eines Besseren. Außerdem war der Kommandant nicht gerade als Witzbold und charmanter Plauderer bekannt. Er schien es völlig ernst zu meinen. Trotzdem blieb dem Offiziant einstweilen die Sprache weg. Und das verärgerte Lanke.
»Wissen Sie überhaupt, was ein Vampir ist, Boysen?«
»Selbstverständlich, Herr Inspector. Darunter versteht man eine Blut saugende Nachtgestalt, einen Untoten, der sich vom Lebenssaft lebendiger Menschen ernährt. Aber ich dachte, Vampire gibt es nur in
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