Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
aufgab und in die Villa ihrer Eltern heimkehrte, würde sie nie wieder für das Komitee zur Rettung gefallener Mädchen tätig werden. Und das konnte sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren. Sie sah die christliche Nächstenliebe als ihre natürliche Verpflichtung an.
Der Tod hielt ohnehin reiche Ernte an diesem heißen Augusttag im Gängeviertel.
Das wurde Anna klar, als sie in den Rademachergang einbog. Dort wurde eine in Leintücher gehüllte Leiche aus einem Haus getragen, begleitet vom Wehklagen der Angehörigen. Ein weiterer Mord?, fragte sich die junge Frau schaudernd. Doch die Frage beantwortete sich von selbst, als sie die Kalkkolonne in das Gebäude eilen sah. Schon verbreitete sich der beißende Gestank von Chlorkalk, mit dem die Cholera-Erreger bekämpft wurden.
Nein, dieser bedauernswerte Mensch war nicht einem Verbrechen, sondern der Seuche zum Opfer gefallen, wie Anna nun erkannte. Sie murmelte ein stilles Gebet, dann setzte sie ihren Weg fort. Es gab nichts, was sie für diese arme Seele noch tun konnte.
Der nächste Name auf Annas Liste lautete Thea Kramer. Dieses Mädchen war Anna bekannt. Sie hauste in einem fensterlosen Verschlag, der eher einem Hasenstall als einer menschlichen Behausung glich. Der Weg zu Theas Unterschlupf führte durch ein Labyrinth aus schmalen, engen Durchgängen. Aus einem offenstehenden Fenster drangen Schmerzenslaute eines kranken Menschen, in einer anderen Wohnung ging ein Liebespaar ungeniert seinem Geschlechtstrieb nach. Irgendwo sang ein Betrunkener.
Anna bekam knallrote Ohren. Obwohl sie schon länger in den Elendsvierteln unterwegs war, hatte sie sich an die völlige Schamlosigkeit der unteren Stände noch nicht gewöhnen können. Hier lebten die Leute einfach zu beengt, um noch Geheimnisse voreinander zu haben. Jede Lebensäußerung fand vor den Ohren und teilweise auch den Augen der Nachbarschaft statt.
Mitten hinein in diese Kakophonie des Gängeviertels drang der schrille Schrei einer Frau.
»Nein! Lass das, du! Ich will das nicht! – Hilfe!«
Anna war keine Heldin, jedenfalls hielt sie sich selbst nicht für eine solche. Trotzdem begann sie zu rennen, als sie diese Worte hörte. Sie lief nicht fort, sondern wollte der Bedrängten zu Hilfe eilen. Anna glaubte, Theas Stimme erkannt zu haben.
Die junge Frau aus Blankenese hob den Saum ihres langen Kleides, um besser laufen zu können. Sie bog um die Ecke, vorbei an einigen stinkenden Säcken, die einem Lumpensammler gehörten. Die Tür zu Theas Behausung war nur angelehnt.
Anna riss sie auf.
Es gab nur einen einzigen Raum. Darin lag die Dirne Thea halbnackt auf ihrem Lager. Über sie gebeugt war eine dunkle Gestalt. Thea wehrte sich, schlug wild um sich.
»Verschwinde!« Annas Stimme kippte in einen schrillen Sopran. »Weg mit dir, du Teufel!«
Anna hatte keine Waffe. Ihr fiel nichts Besseres ein, als mit ihrer Handtasche auf den Rücken des Mannes einzuschlagen. Er gab ein Knurren von sich, das eher an ein Raubtier als an einen Menschen erinnerte.
Und dann ging alles ganz schnell.
Der Mann drehte sich um. Anna wollte in sein Gesicht sehen, doch dann wurde sie von seiner Faust getroffen. Instinktiv griff die junge Frau nach seinem Arm, wollte ihn festhalten. Doch der Kerl schüttelte sie ab und stieß sie zu Boden. Keuchend jagte er in einer unglaublichen Geschwindigkeit davon.
Anna hatte nicht das Bewusstsein verloren, sie war nur etwas benommen. Die junge Frau hielt einen Manschettenknopf in der Hand. Sie musste ihn abgerissen haben, als sie nach dem Ärmel des Täters gegriffen hatte. Anna steckte ihn zunächst ein, ohne weiter darüber nachzudenken. Sie lag im Dreck, aber sie rappelte sich schon wieder auf. Thea schluchzte leise vor sich hin.
Anna eilte zu dem Verbrechensopfer. Die Prostituierte war nur mit einem Unterrock bekleidet. Thea war noch ein junges Mädchen, wenngleich das Leben im Gängeviertel seine Spuren auf ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Anna wusste, dass sie 21 Jahre alt war. Thea presste ihre rechte Hand gegen ihren Hals. Blut sickerte zwischen ihren Fingern hindurch, färbte ihren Unterrock rot.
»Ich bin es, Anna«, wisperte die Frau aus Blankenese und strich beruhigend über Theas Haar. »Der Unhold ist fort.«
»Es war so furchtbar!«, jammerte Thea. »Ich dachte, da kommt ein ganz normaler Kunde. Aber dieser Mistbock – er war völlig irre. Er hat gleich angefangen, mich in den Hals zu beißen!«
Anna erstarrte. Plötzlich hatte sie wieder das entsetzliche Bild
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