Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
ihrem geistigen Auge. Und so schnell würde sie dieses Bild auch nicht vergessen können, das war ihr klar.
Die junge Frau aus Blankenese hatte die Straßendirne Liese Hinrichs persönlich gekannt. Einige Male war es zu Gesprächen mit dem gefallenen Mädchen gekommen.
Liese war die dritte Tochter einer Bauernfamilie aus Dithmarschen gewesen. Sie hatte eine religiöse Erziehung genossen. Bei ihr fielen Annas Bibelzitate durchaus auf einen fruchtbaren Boden. Aber sie war nicht davon abzubringen gewesen, ihren Körper zu verkaufen.
»Die Mutter braucht doch das Geld, seit der Vater ein Krüppel ist«, hatte Liese immer wieder gesagt. Anna musste plötzlich an Boysen denken. Ein solcher Satz wäre Wasser auf die Mühlen dieses primitiven Menschen gewesen. Für Boysen schien die Prostitution ja ein völliger normaler Broterwerb zu sein. Allein diese Vorstellung trieb Anna die Zornesröte ins Gesicht.
Wieso regte sie sich überhaupt so über den Kerl auf? Sie empfand es als ungerecht, dass ein Mann mit Boysens fragwürdiger Lebenseinstellung überhaupt Offiziant der Justizbehörde sein durfte. Die junge Frau beschloss, nun ihre Drohung in die Tat umzusetzen.
Anna entfernte sich vom Gängeviertel und eilte hinüber zum Stadthaus. Dort nahm man ihre Anzeige gegen Boysen wegen der ungerechtfertigten Gewaltanwendung mit professioneller Gelassenheit entgegen.
»Wir werden der Angelegenheit nachgehen«, sagte der federführende Constabler zu ihr. »Und glauben Sie bitte nicht, dass wir einen Verdächtigen aus den eigenen Reihen schonen, Fräulein Dierks.«
Anna fühlte sich gut, als sie das Amtsgebäude wieder verließ. Sie kam sich vor wie die heilige Johanna von Orleans, die mit dem Schwert in der Hand gegen das Böse kämpfte. Als Anna erneut ihre Schritte in Richtung Bäckerbreitergang bewegte, erkannte sie plötzlich das arme Opfer von Boysens Gewaltausbruch.
Es war kein Zweifel möglich. Der breitschultrige Mann aus den unteren Volksschichten, der ihr mit leicht schwankenden Schritten entgegenkam, war von dem Offizianten geschlagen worden. Dafür sprach auch die breite blutige Kruste an der Oberlippe des Opfers.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Anna forsch und trat auf den Mann zu.
»Ja, mein Fräulein?« Der Kerl bemühte sich offenbar, hochdeutsch zu sprechen, obwohl er es nicht gewohnt war. Sein Blick taxierte Annas Figur unter dem schlichten Leinenkleid.
»Sie kennen mich nicht, mein Guter. Aber ich kann Ihnen mitteilen, dass Sie das Unrecht nicht schweigend hinnehmen müssen. Ich selbst habe mit angesehen, was Ihnen zugefügt wurde. Und diese ruchlose Tat wird gesühnt werden.«
Der Mann starrte Anna an, als wäre sie geisteskrank. »Wovon reden Sie, mein Fräulein? Was für ein Unrecht?«
Anna war irritiert. Sie deutete auf sein Gesicht. »Sie armer Mensch sind von einem Polizei-Offizianten misshandelt worden. Er hat Ihnen einen Zahn ausgeschlagen und Ihre Oberlippe verletzt.«
»Unsinn.« Der Mann verzog das Gesicht. »Ich hatte noch nie Ärger mit den Udels. Und meine Visage habe ich mir selber ruiniert, als ich besoffen hingefallen bin.«
»Aber ...«
»So ein feines Fräulein sollte sein Näschen nicht in andere Leute Angelegenheiten stecken. Sie müssen mich verwechseln, schätze ich.«
Mit diesen Worten schob der Mann Anna grob zur Seite, stieß seine Hände in die Hosentaschen und ging mit gesenktem Kopf seiner Wege. Die junge Frau schaute ihm kopfschüttelnd nach. Sie verstand die Welt nicht mehr.
Hatte sie sich getäuscht? Nein, das war unmöglich. Anna konnte sich auf ihr Urteilsvermögen verlassen. Was sie gesehen hatte, hatte sie gesehen. Es gab nur eine Erklärung für das seltsame Verhalten des Gewaltopfers.
Boysen musste ihn eingeschüchtert haben.
Anna zog die Stirn kraus. Dieser Offiziant war ein richtig böser Mensch. Anders konnte man das wirklich nicht nennen. Sie hoffte nur, dass ihre Anzeige gegen Boysen wirklich Früchte trug. So ein moralisch verkommenes Subjekt durfte die Justiz der Stadt Hamburg repräsentieren! Das war in Annas Augen ein handfester Skandal.
Die junge Frau straffte sich. So unangenehm die Begegnung mit Boysen auch gewesen war – nun musste sie sich wieder auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren. Anna kehrte zurück ins Gängeviertel. Je mehr sie sich den düsteren engen Gassen näherte, desto mutloser wurde sie. Der Anblick der blutigen Leiche hatte sie mehr geschockt, als sie sich eingestehen wollte. Doch Anna spürte genau – wenn sie jetzt
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