Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
der Leiche aus dem Bäckerbreitergang vor Augen. Ja, auch diese bedauernswerte Frau war gebissen worden. Nur hatte sie es im Gegensatz zu Thea Kramer nicht überlebt. Anna holte ein sauberes Taschentuch aus ihrer Handtasche und gab es Thea.
»Hier, das kannst du auf deine Wunde pressen. Ich laufe und hole Hilfe. Du brauchst einen Arzt.«
»Den kann ich nicht bezahlen.«
»Aber ich. – Gleich komme ich wieder, Thea.«
Annas Herz raste. Sie lief zurück zum Rademachergang und wäre beinahe gegen den Handkarren der Kalkkolonne gerannt. Offenbar breitete sich die Seuche im Handumdrehen aus. Die Männer in ihren weißen Kitteln machten sich in einem weiteren Haus zu schaffen. Inzwischen roch es in den Gassen nicht mehr nach Fäkalien und fauligem Wasser, denn der scharfe Odem des Chlorkalks überlagerte alles andere.
Anna kannte einen Armenarzt namens Dr. Broders, der an der Fuhlentwiete praktizierte. Sie traf ihn auf dem Weg zu seiner Praxis auf der Straße.
»Gott sei Dank, Herr Doktor! Ich habe eine Patientin für Sie, die dringend versorgt werden muss.«
Der Mediziner schob seinen Zylinderhut in den Nacken und legte die Stirn in Falten. »Ein weiterer Fall von Cholera?«
»Nein. Es handelt sich um ein Freudenmädchen, das von einem Kunden gebissen wurde.«
Dr. Broders schüttelte den Kopf, während Anna ihm Namen und Adresse des Opfers nannte. »Das ist ein verrückter Tag heute, Fräulein Dierks. Ich muss mich noch um einige Cholera-Patienten kümmern. Ich fürchte, die Stadt Hamburg geht düsteren Zeiten entgegen.«
Anna redete mit Engelszungen, damit der Arzt zunächst Theas offene Halswunde behandelte. Dr. Broders wusste offensichtlich nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Das war auch kein Wunder, denn die Sanitäter, Pferde-Krankenwagen und Desinfektionskolonnen waren inzwischen im Straßenbild allgegenwärtig. Anna hatte noch niemals eine Cholera-Epidemie miterlebt. Aber nun musste sie diese Erfahrung machen.
Dr. Broders legte bei Thea Kramer einen sauberen Verband an. Dann hetzte er zu seinem nächsten Cholera-Patienten.
»Ich werde dafür sorgen, dass die Polizei den Kerl findet, der dich gebissen hat«, versprach Anna der Prostituierten.
»Die Udels?« Thea starrte lethargisch ins Leere. »Den Udels ist es doch egal, was mit mir passiert.«
»Aber mir nicht. Ich habe den Täter außerdem gesehen und kann ihn beschreiben«, versicherte Anna. Allerdings musste sie sich selbst eingestehen, dass sie nur seine dunkle derbe Arbeiterkleidung im Gedächtnis behalten hatte. Sein Gesicht hatte sie nicht erkennen können.
Anna fand es allerdings nicht sehr erbauend, sich wieder mit Offiziant Boysen herumärgern zu müssen. Doch wenn sie Glück hatte, traf sie vielleicht auf einen fähigeren und sympathischeren Polizisten. Einen größeren Fehlgriff als diesen Grobian Boysen gibt es gewiss im ganzen Constabler Corps nicht, dachte Anna verärgert.
Die junge Frau schaute sich suchend um. Wenn man die Polizei einmal benötigte, war weit und breit kein Constabler zu sehen. Anna überlegte, wo sich die nächste Wache befand.
Rufe und Schreie erklangen. Ein junger Mann rannte um die Ecke. Er kam aus dem Kornträgergang und bog in den Rademachergang ein. Anna stand ihm im Weg. Sie sah die nackte Angst in seinem Gesicht. Er rief etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand. Der Mann wollte ihr ausweichen und rutschte aus.
In diesem Moment erschienen seine Verfolger. Es war ungefähr ein Dutzend Männer, alle ärmlich gekleidet – genau wie der Flüchtige. Anna hob die Hände. Sie spürte, dass sie die Einzige weit und breit war, die dem Mann helfen konnte. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, damit der Herr ihr Kraft geben möchte.
»Was soll das?«, rief sie mit heller Stimme. »Was wollt ihr von diesem Menschen?«
Der Flüchtige hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt und wollte weiterrennen. Aber er stieß einen Schmerzenslaut aus. Offenbar hatte er sich das Fußgelenk verstaucht. Er hüpfte auf einem Bein und blieb dann zitternd an eine Hauswand gelehnt stehen.
»Mischen Sie sich da nicht ein, Fräulein!«, rief ein unrasierter Kerl, der offensichtlich der Wortführer war. »Der Polacke kriegt nur, was er verdient!«
»So – und was verdient er?«
»Den Tod – denn das Schwein hat eine Frau totgebissen!«
Anna wandte unwillkürlich den Kopf zur Seite und betrachtete den Polen genauer. Sollte das wirklich der Mörder sein, der Liese Hinrichs getötet und Thea Kramer verletzt hatte? Anna
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