Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
die sie bekämpfen sollten. Diese Sichtweise war Anna stets überzogen und einseitig vorgekommen – jedenfalls, bis sie Boysen kennenlernte. Er schien dieses Vorurteil eindeutig zu bestätigen.
»Ja, das wäre dann wohl alles für den Moment, Fräulein Dierks. Von meiner Seite aus gibt es keine weiteren Fragen. Sie können also gern Ihren missionarischen Rundgang fortsetzen, wenn Sie es wünschen.«
Die junge Frau aus Blankenese schenkte ihm ein honigsüßes Lächeln. »Das werde ich tun, Offiziant Boysen. Aber zuvor mache ich einen Abstecher zum Stadthaus und zeige Sie wegen Ihrer Gewalttätigkeit an.«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, erwiderte Boysen und schob sich ungerührt ein frisches Stück Kautabak in den Mund.
Anna Dierks war eine hübsche schlanke junge Frau. Sie machte einen aufgeweckten Eindruck und schien das Herz auf dem rechten Fleck zu haben. Doch nach Boysens Meinung war sie hoffnungslos wirklichkeitsfremd. Ihre hohen Ideale passten in die sorgenfreie bürgerliche Umgebung, in der sie vermutlich aufgewachsen war. Hier im Gängeviertel, wo jeder ums nackte Überleben kämpfte, waren sie fehl am Platz. Der Offiziant hörte schon an ihrer Aussprache und bemerkte an ihrer Körperhaltung, dass sie nicht in das Armenviertel hineingeboren worden war. Diese Deern hatte offensichtlich eine höhere Bildung genossen, während die meisten jungen Frauen im Gängeviertel kaum ihren eigenen Namen schreiben konnten.
Was für eine scheinheilige Betschwester!, dachte Boysen.
Anna musterte den Uniformierten noch einmal von Kopf bis Fuß. Sie war entschlossener denn je, ihn bei seinen Vorgesetzten anzuschwärzen. Gewiss, er schien den Mord an Marie Stevens wirklich aufklären zu wollen. Aber das gehörte schließlich zu seinen Amtspflichten! Es hatte sie innerlich tief getroffen, wie verächtlich er über ihre karitative Tätigkeit gesprochen hatte. Dabei war sie ihm haushoch überlegen, was Bildung und Empfindsamkeit des Herzens anbelangte. Bei manchen Menschen hatte Anna Schwierigkeiten, sie als Geschöpfe Gottes anzuerkennen. Dieser tabakkauende Offiziant gehörte zweifellos zu dieser Kategorie.
Was für ein stumpfsinniger Grobian!, dachte Anna.
Boysen hatte seine Durchsicht der Kammer beendet und beugte sich vor, um das Fenster wieder zu schließen.
Da ertönte ein gellender Schrei auf der Gasse.
»Mörder! Mörder! Haltet den Mörder!«
3. Kapitel: Tod im Gängeviertel
Boysen stieß Anna zur Seite, sprang aus der engen Kammer und raste die steile Hühnerleiter hinab. Das Jagdfieber hatte ihn fest im Griff. Für Momente wie diesen war er zum Constabler Corps gegangen – ein Verbrecher war flüchtig, und er hatte die Chance, ihn zu erwischen.
»Lasst mich durch!«, bellte der Offiziant mit Stentor-Stimme, als ihm beim Durchqueren des Hauses einige Bewohner in die Quere gerieten. Die Leute grummelten, wichen ihm mit trägen Bewegungen aus. Boysen wusste, dass die Menschen vom Dahinvegetieren im Gängeviertel unbeweglich wurden. Oft war es schlicht und einfach der Hunger, der ihnen die Kraft raubte.
Boysen hatte endlich den Bäckerbreitergang erreicht und blieb kurz stehen, um sich zu orientieren. Die Rufe hatten nicht aufgehört, waren noch durch ein Jammern und Wehklagen ergänzt worden. Das Stimmengewirr kam aus Richtung Rademachergang. Der Uniformierte hetzte in diese Richtung weiter. Vor einem kleinen Verschlag neben einem Kolonialwarenladen hatte sich eine Menschentraube zusammengefunden. Boysen verschaffte sich mit den Ellenbogen Platz. Wenig später stand er vor der Leiche.
Der Offiziant biss sich auf die Unterlippe. Wieder war es eine junge Frau, die auf entsetzliche Weise ums Leben gekommen war. Genau wie Marie Stevens im Hafen war auch dieses Opfer totgebissen worden. Zusätzlich hatte der Täter wohl auch noch ihr Genick gebrochen. Jedenfalls stand der Kopf in einem unnatürlichen Winkel vom Rumpf ab.
»Wer hat die Frau gefunden?«, rief Boysen. Er musste jetzt schnell handeln, wenn er den Wettlauf mit dem Täter gewinnen wollte. »Und wer hat den Mörder gesehen?«
»Ich«, meldete sich ein ungefähr zwölfjähriger Buttje, dem die Tränen über die Wangen rannen. »Ich sollte Ware ausliefern für Kaufmann Siemer. Da hab' ich den Schauermann mit der Frau gesehen – und dann war da plötzlich überall Blut!«
»Ein Schauermann also«, vergewisserte sich Boysen. »Und wohin ist er verschwunden, der Schauermann?«
Der Kleine deutete mit zitternder Hand in
Weitere Kostenlose Bücher