Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
erinnerte sich wieder an den kurzen Augenblick, als sie den Kerl am Ärmel gepackt hatte.
Die Jacke des Unheimlichen war dunkelgrau gewesen, die des Polen war grün. Außerdem war der Mann aus dem Osten Europas viel schmächtiger als Theas Angreifer. Oder? Für einen Moment war Anna selbst unsicher.
»Das ist jedenfalls Sache der Polizei«, sagte Anna mit fester Stimme. Aber ihr unrasiertes Gegenüber lachte sie nur aus.
»Die Udels? Die sind doch nie da, wenn man sie braucht«, höhnte der Mann.
Anna begriff, dass sie genau diesen Gedanken selbst noch vor wenigen Minuten gehegt hatte. Doch sie konnte dieser Übereinstimmung nichts Amüsantes abgewinnen. Dafür war die Situation viel zu ernst. Sie bemerkte erst jetzt, dass der Unrasierte einen Beilstiel in der Hand hielt. Anna stellte sich schützend vor den Polen.
»Lassen Sie uns durch, wir greifen uns das Polackenschwein!«, rief der Rädelsführer.
»Nein, ich werde das nicht zulassen«, sagte Anna mit fester Stimme. Allerdings musste sie feststellen, dass der Unrasierte einen Kopf größer war als sie selbst. Und er machte nicht den Eindruck eines Kavaliers, der seine Hand niemals gegen eine Dame erheben würde. Anna wurde es immer mulmiger zumute. Sie spürte ein sehr großes Unbehagen in ihrer Magengrube. Da hörte sie eine wohlbekannte Stimme hinter sich.
»Was ist denn hier los?«
Anna drehte sich um. Sie hätte sich bis vor wenigen Augenblicken nicht vorstellen können, einmal über Boysens Anblick erfreut zu sein. Aber nun war sie erleichtert, den Uniformierten zu erblicken.
Boysen glaubte manchmal, dass er einen sechsten Sinn für Ärger besaß. Obwohl er jeden verfügbaren Constabler losgejagt hatte, war die Suche nach dem Mörder bisher ergebnislos verlaufen. Dabei war das Gängeviertel nicht gerade groß. Es erstreckte sich nur über wenige Straßenzüge, vom Valentinskamp im Osten bis zum Pilatuspool im Westen. Südlich wurde es vom Bleichenfleet begrenzt, im Norden vom Dammtorwall.
Doch der Stadtteil glich einem undurchsichtigen Labyrinth. Bei den Hamburgern, die außerhalb dieser beengten Behausungen lebten, galt das Gängeviertel als Hort des Verbrechens und Lasters. Dieses Vorurteil konnte Boysen durch seine Berufserfahrung beim Constabler Corps nur bestätigen. Es war oft die blanke Not, durch die die Menschen zu Gesetzesbrechern wurden. Das wusste der Offiziant natürlich, aber er hatte die Welt nicht so erschaffen, wie sie nun einmal war. Also bemühte er sich nach Kräften, das Recht durchzusetzen.
Die Constabler durchwühlten die Kammern, in denen ganze Familien mit mehreren Kindern in einem einzigen Zimmer hausten. Manche Leute nähten oder stickten in Heimarbeit, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Unendlich viele Frauen verkauften ihren Körper, um am nächsten Tag Brot auf dem Tisch zu haben. Obwohl in Hamburg eigentlich Meldepflicht herrschte, wusste noch nicht einmal die Polizei genau, wie viele Personen im Gängeviertel lebten. Es war so gut wie unmöglich, in den verschachtelten und verwinkelten Gebäuden einen Verdächtigen aufzustöbern.
Nachdem die Leiche von Liese Hinrichs abtransportiert worden war, hatte sich Boysen gemeinsam mit den Constablern Gräner und Meck persönlich auf die Suche nach dem Mörder gemacht. Sie bewegten sich in Richtung Rademachergang. Und dort waren sie auf den Menschenauflauf gestoßen, dessen Zentrum Anna Dierks und ein ausländisch wirkender junger Mann bildeten.
»Was ist hier los?«, wiederholte Boysen die Frage in seinem schärfsten Befehlston. Er wusste genau, dass die Situation sehr brenzlig war.
Boysen und seine beiden Untergebenen standen nun neben Anna und dem zitternden Tropf. Der Anblick der Uniformen hatte die schreiende und wütende Menge aus dem Konzept gebracht – aber nur für einen Moment. Nun hob einer der Kerle den Axtstiel, den er in der rechten Faust hatte. Immer mehr Einwohner des Gängeviertels strömten zusammen. Die Stimmung wurde mit jedem Augenblick gereizter.
Boysen packte den jungen Constabler Meck am Uniformärmel.
»Du läufst jetzt sofort zur Thielbek-Wache. Sag dem Wachhabenden, dass ich die berittene Abteilung hier benötige. Und zwar so schnell wie möglich!«
Constabler Meck nickte und rannte davon. Ihm war klar, dass er schon bald kräftig eins auf den Helm kriegen würde, wenn er dort blieb.
»Du da!« Boysen richtete seinen Zeigefinger wie eine Waffe auf den Unrasierten mit dem Beilstiel. »Ich kenne dich doch – du bist doch Pittje
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