Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
sich verblüfft um. Er hatte sich nicht getäuscht, die Waffe war schräg hinter ihm abgefeuert worden. Der Offiziant sah Anna, die zitternd seinen Bulldog-Revolver in beiden Händen hielt. Sie war es, die einen Schuss abgefeuert hatte. Und sie war offensichtlich bereit, die Waffe noch einmal einzusetzen. Jedenfalls spannte sie den Hahn erneut und schwenkte die Mündung drohend hin und her.
Obwohl die Menschen dicht an dicht standen, hatte die Kugel keinen von ihnen getroffen. Oder hatte Anna ohnehin nur in die Luft geschossen?
Boysen nahm sich vor, sie das später zu fragen. Er wusste allerdings nicht, ob er noch dazu kommen würde. Denn das Eingreifen der jungen Frau hatte die wütende Meute nur kurzzeitig zurückgehalten. Nun sollte es Anna, dem Polen und den beiden Polizisten offenbar ernsthaft an den Kragen gehen.
Boysen zog seinen Säbel, um sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Da ertönte das Pochen von galoppierenden Hufen auf dem Kopfsteinpflaster. Der Offiziant konnte sich einen Seufzer der Erleichterung nicht verkneifen.
Die schmalen Gassen des Gängeviertels waren für Wagen zu schmal, aber nicht für die Constabler zu Pferde. Die berittene Abteilung stürmte in vollem Galopp heran und löste die Versammlung mit ihren bewährten Methoden auf.
Ein Dutzend Constabler zu Pferde rückten mit gezogenen Waffen an. Sie trieben ihre Reittiere mitten in die Menge. Wer den wirbelnden Hufen entging, bekam mit der flachen Säbelseite eins auf den Schädel. Die Uniformierten schlugen wild um sich. So mancher Raufbold holte sich einen blutigen Kopf.
Wie ein Strafgericht Gottes, dachte Anna. Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass sie beeindruckt und gleichzeitig erleichtert war. Im Handumdrehen hatten die berittenen Polizisten den Menschenauflauf zerstreut. Schreiend und fluchend nahm der Mob Reißaus.
Der Kommandant schob seinen Säbel in die Scheide zurück und ließ sich aus dem Sattel gleiten. Er führte die behandschuhte Rechte an seinen Helmrand, um Boysen zu grüßen.
»Das war knapp«, sagte Boysen. Er drückte sich ein Taschentuch gegen seine blutende Stirn. Dann drehte er seinen Kopf in Annas Richtung. »Darf ich vorstellen: Offiziant Hornberg, Kommandant der berittenen Abteilung des Constabler Corps. – Fräulein Anna Dierks vom Komitee zur Rettung gefallener Mädchen .«
Hornberg salutierte lächelnd vor Anna. »Sehr charmant, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf – und offenbar ist an Ihnen auch eine richtige Amazone verloren gegangen.«
Anna schaute Hornberg verständnislos an. Erst im nächsten Moment wurde ihr bewusst, dass sie immer noch den Revolver in der Hand hielt. Sie errötete und gab Boysen die Waffe zurück.
»Wo haben Sie das Schießen erlernt?«, wollte der Offiziant wissen.
»Mein Vater ist im Blankeneser Schützenverein. Ich habe ihn einmal gebeten, mir die Funktionsweise seiner Waffe zu zeigen. – Ich bin nämlich der Meinung, dass sich auch eine Dame für Technik interessieren darf.«
Boysen unterdrückte ein Schmunzeln. Er hatte Anna nicht darum gebeten, sich zu rechtfertigen. Natürlich war ihm klar, dass das Abfeuern eines Revolvers nicht unbedingt mit der christlichen Nächstenliebe dieser Betschwester in Einklang zu bringen war. Gleichwohl empfand er Dankbarkeit; wenn Anna nicht gefeuert hätte, wäre die Sache wohl weit weniger glimpflich ausgegangen. Boysen musste sich eingestehen, dass er die junge Frau aus Blankenese womöglich unterschätzte.
»Wir sind schon den ganzen Tag im Einsatz«, sagte Offiziant Hornberg und riss Boysen damit aus seinen selbstkritischen Betrachtungen. »Die Seuche breitet sich aus, es gibt überall in der Stadt Tumulte und Aufläufe.«
Boysen nickte dem berittenen Kollegen zu.
»In Ordnung, vielen Dank erst einmal. Ihr werdet hier jetzt nicht mehr benötigt. Wir werden uns zur Thielbek-Wache begeben und die Situation klären.«
Constabler Gräner hatte dem jungen Polen, der sich aus dem Staub machen wollte, den Arm auf den Rücken gedreht. Boysen, Anna, der Constabler und der Pole gingen zur Polizeistation, wobei sie von den berittenen Polizisten aus dem Gängeviertel eskortiert wurden.
Anna atmete auf, als sie das Wachtlokal betrat. Erst jetzt wurde ihr so richtig klar, in was für einer lebensgefährlichen Situation sie sich noch vor kurzer Zeit befunden hatte.
»Offiziant Boysen ... ich sollte mich wohl bei Ihnen bedanken. Dafür, dass Sie mir beigestanden haben, meine ich«, brachte Anna hervor.
Der
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