Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
Gesellschaft Interesse an ihr zeigten. Doch im Grunde machte sie sich an diesem Morgen nur deshalb so besonders hübsch, weil sie das Elend und die Gewalt des Vortags vergessen wollte.
Aber das gelang ihr nicht. Noch während Anna die Treppe hinunter ging, kamen die Erinnerungen an den Vortag zurück. Der grausige Leichenfund, der Angriff auf Thea Kramer, die Konfrontation mit dem aufgebrachten Pöbel, der Schuss, den sie abgefeuert hatte ... diese Dinge hatten Annas durch ihren Glauben gestärkte innere Ruhe gründlich erschüttert, wie sie in diesem Moment erkannte.
Ihre Eltern frühstückten auf der Terrasse. Anna gesellte sich zu ihnen und bemühte sich, einen möglichst unbefangenen Eindruck zu machen. Sie hatte Mama und Papa nichts von ihren Abenteuern erzählt. Denn wenn sie das tat, würde sie gewiss nie wieder allein durch Hamburg streifen dürfen. Darüber machte sie sich keine Illusionen.
Trotzdem bemerkte ihr Vater, dass etwas nicht in Ordnung war. Er ließ das Hamburger Fremdenblatt sinken und warf seiner Tochter einen kritischen Blick zu, während das Dienstmädchen Anna einen Kaffee einschenkte.
»Ist dir nicht wohl, mein Kind?«
»Doch, Papa. Es ist nur ... ich mache mir Sorgen wegen der Cholera-Epidemie.«
»Wir haben einen erstklassigen Tiefbrunnen zur Verfügung«, warf Annas Mutter ein, während sie in ein Rundstück biss. Besorgt fügte sie hinzu: »Du hast doch hoffentlich kein Wasser getrunken, als du gestern für die Kirche unterwegs warst?«
»Selbstverständlich nicht, Mama.« Anna wäre wirklich nicht auf den Gedanken gekommen, die stinkende Brühe aus Elbe oder Alster zu sich zu nehmen. »Es ist nur traurig, so viele Menschen erkranken zu sehen.«
Friedrich Dierks nahm seine Zeitungslektüre wieder auf.
»Ja, sauberes Wasser ist ein schätzenswertes Gut. Ich habe gerade gestern noch mit Senator Kluge über dieses Thema gesprochen. Es gibt Bestrebungen, eine moderne Sandfiltrationsanlage zu bauen. Damit wäre gutes Trinkwasser für ganz Hamburg herzustellen. Leider sind die finanziellen Mittel unserer Stadt nicht unbegrenzt. Der Bau des Zollhafens und des neuen repräsentativen Rathauses haben Vorrang.«
»Vorrang?«, ereiferte sich Anna. »Momentan sterben tagtäglich Menschen, weil es kein sauberes Trinkwasser gibt.«
»Das ist Politik, mein Kind. Zerbrich dir darüber nicht dein hübsches Köpfchen«, sagte Friedrich Dierks herablassend. »Verrate mir lieber, ob du die Einladung von Paul Schröder zum Sommerball des Jachtclubs annehmen willst.«
Anna versuchte, sich ihre Empörung nicht anmerken zu lassen. Sie fühlte sich durchaus dazu in der Lage, sich ihre eigene Meinung zu bilden, obwohl sie eine Frau war. Trotzdem wäre es unklug, ihren Vater gegen sich aufzubringen. Anna wusste genau, wie groß im Grunde die Freiheit war, die sie genoss. Daher musste sie diplomatisch vorgehen.
»Paul Schröder?«, echote sie. »Ich habe mich noch nicht entschieden, ehrlich gesagt.«
In Wirklichkeit dachte sie nicht daran, mit diesem jungen Mann tanzen zu gehen. Er mochte ja ganz nett sein, aber seine großen roten abstehenden Ohren erinnerten sie an die Backbord-Positionslaternen von Seeschiffen.
»Paul ist ein Junge aus gutem Haus«, gab Annas Mutter zu bedenken. »Sein Vater hat im Großhandel mit Kolonialwaren ein Vermögen gemacht, wie man hört.«
»Ich denke, ich werde seine Einladung annehmen«, sagte Anna, um ihre Eltern friedlich zu stimmen. Sie kam sich vor wie eine Figur in einem dieser schwülstigen Liebesromane, die sie eigentlich so strikt ablehnte. Denn während sie das tat, was von ihr erwartet wurde, war sie innerlich überhaupt nicht bei der Sache.
Anna musste unaufhörlich an den Mörder denken. Immer wieder erlebte sie innerlich aufs Neue den Moment, als sie mit dem Verbrecher gekämpft hatte. Zum Glück hatte sein Fausthieb in ihr Gesicht keine Spuren hinterlassen, die nicht mit einer dicken Schicht Puder zu kaschieren waren. Sonst hätte sie sich Mama und Papa gegenüber nämlich eine sehr glaubwürdige Geschichte ausdenken müssen.
Nachdenklich löffelte Anna ihre Dickmilch.
»Ich glaube, deine Tochter ist verliebt«, bemerkte Friedrich Dierks trocken und blätterte eine Zeitungsseite um. »In einer so seltsamen Stimmung habe ich Anna noch niemals erlebt.«
»Wie du immer redest, Fritz«, erwiderte Brigitte Dierks mit einem milden Tadel in der Stimme, während Anna errötete. Gleichzeitig war die junge Frau erleichtert darüber, dass ihr Vater nicht den
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