Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
Familientyrann gewesen, dem sein zweiter Sohn keine Träne nachweinte. Hartmut war immer bevorzugt worden, schon von Kindesbeinen an. Boysen wusste nicht, was sein Vater gegen ihn gehabt hatte. Fest stand nur, dass der spätere Offiziant in seiner Kindheit mindestens doppelt so viele Schläge hatte einstecken müssen wie sein Bruder. Doch Boysen war nicht daran zugrunde gegangen, wenn sein Vater ihm wieder einmal das Fell gegerbt hatte.
Vom Tod seines Erzeugers hatte Boysen telegrafisch erfahren, als er beim Ostasiengeschwader gewesen war. Er hatte das Ereignis gefeiert, indem er eine chinesische Hure aufgesucht hatte. Seitdem hatte er kaum noch einen Gedanken an seinen Vater oder seinen älteren Bruder verschwendet. Boysens drei jüngere Schwestern waren ausnahmslos verheiratet, und der eingefleischte Junggeselle bekam sie selten zu sehen. Familienfeste ödeten ihn an.
Lediglich seine alte Mutter, die in einem Damenstift lebte, wurde von ihm finanziell unterstützt. Sie tat ihm leid, weil sie so lange mit dem Familientyrann verheiratet gewesen war. Ein schlimmeres Los konnte es nach Boysens Ansicht kaum geben.
Robert Thörnings Stimme riss ihn aus seinen Grübeleien.
»Wir haben diesen Manschettenknopf für Herrn Carl Lütke aus Blankenese gefertigt, Herr Polizei-Offiziant .«
Boysens ignorierte die ironische Betonung seines Titels. Er steckte den Manschettenknopf wieder ein, setzte seinen Helm auf und salutierte. »Ich bedanke mich für die Unterstützung meiner kriminalistischen Ermittlungen«, sagte er steif und marschierte hinaus, ohne Robert Thörning noch eines Blickes zu würdigen.
Boysen gehörte nicht zu den Menschen, die in der Cholera ein Strafgericht Gottes sahen. Aber er hätte nichts dagegen gehabt, wenn der alte Goldschmied ebenfalls an der Seuche erkranken würde.
Anna Dierks hatte von Boysen geträumt.
Es war ein widerlicher Nachtmahr gewesen, in dem Anna gemeinsam mit dem Polizisten in einen engen dunklen Raum eingesperrt war. Dieses metallene Gefängnis stank nach Schmieröl, Schweiß und Tabak. Es war so eng gewesen, dass sich ihre Körper ständig berührt hatten. Anna hatte Boysens Hände überall auf ihrer heißen Haut gespürt.
Die junge Frau schüttelte sich. Das schlechte Gewissen nagte an ihr, weil ihre Seele solche schwülstigen Fantasien ausgebrütet hatte. Anna schlüpfte aus dem Bett, kniete sich vor das kleine Kruzifix auf ihrem Nachtschrank und sprach zunächst ihr Morgengebet.
Danach fühlte sie sich etwas besser. Die junge Frau zog die Stores zur Seite und genoss den herrlichen Ausblick. Die Villa ihres Vaters war am grünen Hang des Süllbergs in Blankenese errichtet worden. Von Annas Fenster aus hatte man einen Panoramablick auf das breite glitzernde Band der Elbe. Ein majestätischer Dampfer mit schwarzem Eisenrumpf glitt langsam auf die Mündung des Stromes zu. Anna fühlte eine süße Melancholie in ihrem Inneren, als sie das Schiff betrachtete.
Die Welt war groß, und Anna war jung. Wenn sie erst verheiratet war, würde ihr Ehemann sie gewiss in die exotischsten Länder mitnehmen. Geschäfte führten die Hamburger Kaufleute in die entlegensten Winkel des Erdballs. Es war eine unausgesprochene Selbstverständlichkeit in ihrer Familie, dass Anna eine gute Partie machen würde – also einen möglichst wohlhabenden Kaufmann.
Jedenfalls nicht einen miserabel bezahlten Polizeidiener wie Boysen , dachte Anna arrogant. Im nächsten Moment wurde ihr klar, dass diese Haltung nicht zu ihrem Ideal der christlichen Nächstenliebe passte. Aber dieser Grobian in Uniform hatte eine Art an sich, die sie immer wieder aus der Fassung brachte. Anna war böse auf ihn, obwohl es ja objektiv gesehen nicht Boysens Schuld war, wenn sie von ihm träumte ...
Die junge Frau wusch sich gründlich und kleidete sich besonders sorgfältig an. Da sie an diesem Tag nicht für das Komitee zur Rettung gefallener Mädchen tätig sein wollte, verzichtete sie auf ihr ärmliches Gewand. Stattdessen wählte sie ein luftiges Sommerkleid, das trotz seiner Leichtigkeit keineswegs anstößig wirkte. Gewiss, es war von den Schultern bis zur Taille schmal geschnitten und betonte ihre knabenhafte Figur. Aber das entsprach der neuesten Mode, ebenso wie die glockige Form des Rocks von den Knien an abwärts.
Anna war innerlich zerrissen. Einerseits schämte sie sich für ihre Eitelkeit, als sie sich selbstzufrieden vor dem Spiegel drehte. Aber andererseits freute es sie insgeheim, wenn die jungen Herren der
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