Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
Botschaft vor. Boysen salutierte und nannte ebenfalls seinen Namen.
»Wir haben einen Staatsbürger Ihres Reiches festgenommen, den ich wegen eines schwerwiegenden Verbrechens verhören muss.«
Boysen, der Constabler und der Dolmetscher begaben sich zum Zellentrakt, wo der Pole eingesperrt worden war. Anna schloss sich ihnen wie selbstverständlich an. Boysen dachte kurz daran, sie zu verscheuchen. Aber er verzichtete darauf, ohne selbst den Grund dafür nennen zu können.
Der Pole hockte wie ein in die Enge getriebenes Tier in seiner Zelle. Der Offiziant ließ nach seinem Namen fragen und erfuhr, dass der Mann Tadeusz Kowalski hieß. Wie Boysen es sich schon gedacht hatte, wartete Kowalski auf seine Schiffspassage nach Amerika. Das sagte jedenfalls der Mann von der Botschaft.
»Fragen Sie ihn, was er in dem Stadtteil zu suchen hatte, wo ich ihm begegnet bin«, sagte der Offiziant. Der Dolmetscher übersetzte.
»Kowalski gibt an, dass er sich nach Nahrung umgeschaut hätte«, sagte der Botschaftsmensch naserümpfend – so, als ob Essen etwas Verwerfliches sei.
»Er soll sich ausziehen«, ordnete Boysen an. Er drehte sich zu Anna um. »Fräulein Dierks, Sie gehen nun doch besser hinaus.«
Anna errötete schon bei dem Gedanken, einen nackten Mann ansehen zu müssen. »Keine Sorge, Offiziant Boysen. Ich weiß, was sich für eine Dame schickt.«
Sie rauschte hinaus, und Kowalski pellte sich aus seiner geflickten und schmutzigen Kleidung. Boysen nahm Jacke, Weste, Hose und den Rest genau in Augenschein, roch sogar an den miefenden Klamotten. Doch nichts deutete auf frische Blutflecken hin. Er hatte genügend Erfahrung in der Polizeiarbeit, um Blut sofort von anderen Schmutzspuren unterscheiden zu können.
Kowalski durfte sich wieder anziehen. Angeblich wusste er nichts von dem Mord und dem Mordversuch, die sich im Gängeviertel ereignet hatten. Es gab für Boysen keinen Grund, ihm nicht zu glauben.
»Gebt Kowalski ein paar Scheiben Brot, und dann lasst ihn laufen«, ordnete Boysen dem Constabler gegenüber an. Er bedankte sich bei dem Dolmetscher und ging zurück in den vorderen Teil des Wachtlokals, wo Anna ihn gespannt erwartete.
»Kowalski war es nicht, Fräulein Dierks. Es gibt keine Tatzeugen, die ihn gesehen haben. Er weist keine Blutflecken auf, und seine Kleidung ist eher die eines Landarbeiters als eines Schauermanns. Außerdem ist da ja noch Ihre Aussage sowie der Manschettenknopf, den Sie mir freundlicherweise überlassen haben.«
Anna blinzelte und legte den Kopf schief. »Freundlicherweise, Offiziant Boysen? Darf ich Sie so verstehen, dass ich Ihnen eventuell von Nutzen war?«
»Das kann man sagen«, gab Boysen zu.
»Dann werden Sie mich wohl über die weiteren Ermittlungen auf dem Laufenden halten?«
»Es scheint, als ob mir keine andere Wahl bleibt.«
Boysen lächelte, als ob er in eine saure Zitrone gebissen hätte.
4. Kapitel: Das Corpus Delicti
Als Boysen am nächsten Morgen mit seinen Nachforschungen begann, hatte er sich beinahe schon an die Allgegenwart der Cholera-Epidemie gewöhnt.
Die weiß getünchten Pferde-Krankenwagen waren pausenlos im Einsatz. Die Stadt verfügte über viel zu wenige dieser Fahrzeuge, wie schon seit Längerem bekannt war. Sanitäter in langen Kitteln schafften auf Tragen die Infizierten in die Transportkarren. Boysen musste nur einen Blick auf die Erkrankten werfen, um die Cholera-Symptome zu diagnostizieren. Die Menschen zitterten vor innerer Kälte, ihre Extremitäten waren blau angelaufen und auf ihren Gesichtern zeigte sich eine seltsame Mischung aus Lethargie und Todesangst. Der Gestank nach Kot und Erbrochenem wurde nicht immer von dem scharfen Odem des Desinfektionskalks überdeckt.
So viele Menschen starben an der Seuche. Daran konnte Boysen nichts ändern, denn er war kein Arzt. Doch selbst die studierten Mediziner waren sich nicht einig, wie die Krankheit eingedämmt werden konnte. Das Schicksal der Erkrankten ließ den Offizianten nicht kalt, aber er hatte einen Mörder zu jagen.
Boysen versuchte sein Glück bei einigen Juwelieren an der Niedernstraße, der Kleinen Reichenstraße und dem Kattrepel. Die Inhaber behaupteten übereinstimmend, den Manschettenknopf nicht angefertigt zu haben. Der Offiziant musste sich ganz auf seine Menschenkenntnis verlassen. Er ging davon aus, dass die Schmuckhändler die Wahrheit sagten. Boysen spürte normalerweise, wenn er belogen wurde. Schlecht gelaunt setzte er seinen Weg fort. Als Nächstes
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