Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
gesehen haben.
»Immer mit der Ruhe, Paul. Was ist geschehen?«
»Herr Offiziant ...« So hatte der Karrenschieber Boysen noch nie zuvor angeredet. Bisher war der Uniformierte für ihn immer nur ein »Drecksudel« gewesen. »Da hinten liegt eine blutige tote Frau ... Oh Gott ...!«
Lüders schlug sich die rissigen schwieligen Hände vor das Gesicht. Seine Schultern zuckten. Der Tagelöhner hatte auf Boysen bisher noch niemals einen zart besaiteten Eindruck gemacht. Lüders war ein richtiger Schläger. Er kannte normalerweise keinen Respekt vor der Uniform, und er hatte keine Hemmungen, mit seinen mächtigen Fäusten auf einen Constabler loszugehen. Umso bemerkenswerter war für den Offizianten der jetzige Gefühlsausbruch des Zeugen. Als Lüders die Hände wieder sinken ließ, rannen Tränen über seine Wangen. Boysen legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter.
»So, Paul. Dann bringst du uns jetzt zu der Leiche, einverstanden?«
Der Karrenschieber nickte heftig. Paul Lüders lief mit seinen schweren Seemannsstiefeln voran, Boysen und Okkinga folgten ihm.
Die Leiche befand sich in einer finsteren Ecke am Kehrwiederbrook. An diesem Platz sollte ein weiterer Warenspeicher entstehen, aber bisher waren nur die Grundmauern errichtet worden.
»Hier ist es«, krächzte Lüders. Er krallte sich wie ein Kind in Boysens Uniformärmel und deutete in die Finsternis.
Zwischen aufgestapelten Ziegelsteinen und Holzbohlen lag eine tote Frau, und zwar außerhalb des Lichtkegels der Straßenlampen. Boysen und Okkinga richteten ihre Blendlaternen auf die grausige Szene.
Boysens Kehle trocknete augenblicklich aus. Er hatte beim Ostasiengeschwader gedient, bevor er in das Constabler Corps eingetreten war. In Fernost hatte Boysen mehr als genug Menschen gesehen, die gewaltsam umgekommen waren. Und auch als Constabler und später als Offiziant hatte er mit einigen Tötungsdelikten zu tun gehabt.
Doch keine von diesen Leichen war auf so grausame Art ermordet worden wie diese junge Frau. Ihr Hals war förmlich zerfleischt worden. Das Kleid war an vielen Stellen zerrissen. Ein Sittlichkeitsverbrechen lag allerdings trotzdem nicht vor, denn der Täter hatte ihr die knielange Unterbüx offenbar nicht ausgezogen.
Täter? Boysen zog die Augenbrauen zusammen, während ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Sollte wirklich ein Mensch zu dieser Untat fähig gewesen sein? Der Offiziant hätte eher einen Wolf oder einen Bären als den Schuldigen vermutet. Doch solche wilden Tiere gab es nicht im Hamburger Hafen.
Oder?
Da gab es doch diesen Schausteller, der in seiner Menagerie Löwen und andere Raubtiere ausstellte. Die Biester wurden per Schiff nach Hamburg geschafft. Wenn nun eines von ihnen aus der Transportkiste entwichen war ... Wie hieß dieser Zirkusmensch bloß? Boysen zwang sich zum Nachdenken, dann fiel ihm der Name endlich ein.
Carl Hagenbeck.
»Das ist ein Tier gewesen«, sagte der Offiziant laut. Doch Paul Lüders schüttelte heftig den Kopf.
»Nee, Herr Offiziant. Das war ein Mann – ich hab' ihn doch noch wegrennen sehen! Der lief wie ein Flunki!«
Boysen atmete tief durch. Er holte eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und bot Okkinga und Lüders eine an. Gierig griffen die beiden anderen Männer nach den ovalen Glimmstängeln aus türkischem Tabak. Eigentlich war Rauchen im Dienst streng verboten, aber das war momentan Boysens geringste Sorge. Er zündete sich selbst eine Zigarette an und inhalierte den Rauch tief in seine Lungen.
»Jetzt erzähl' mal der Reihe nach, Paul. Und denk daran: Ich sehe dir an der Nasenspitze an, wenn du lügst.«
»Ich will doch nicht schwindeln, jedenfalls nicht heute«, beteuerte der Zeuge. »Ich bin hier am Kehrwiederbrook spazieren gegangen ...«
»Um das romantische Mondlicht zu genießen?«, höhnte Boysen. »Du lügst doch, wenn du das Maul aufmachst, Paul!«
»Es stimmt aber!«
»Und was hattest du mitten in der Nacht in dieser einsamen Gegend zu schaffen?«, bohrte der Offiziant nach.
Paul Lüders sog nervös an seiner Zigarette.
»Ehrlich gesagt habe ich eine Geldbörse gesucht.«
»Das klingt schon glaubwürdiger. Und wieso sollte hier eine Geldbörse herumliegen?«
»Weil wir – Hein Gessens und ich – uns einen norwegischen Matrosen vorgeknöpft hatten.«
»Du meinst: ihr habt ihn zusammengeschlagen«, vergewisserte sich Boysen.
Der Tagelöhner nickte. »Der Kerl hat uns herausgefordert, ehrlich. Irgendwie sind wir mit ihm zum Kehrwiederbrook
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