Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
Wasserfahrzeugs. Nun bemerkten die Ordnungshüter, dass mindestens sechs Personen unter das Boot gekrochen waren, darunter mehrere Kinder. Weinen, Wehklagen und Gejammer erklangen.
»Rauskommen, sonst werde ich ungemütlich!«, drohte Boysen. Er drosch weiter auf den Bootsrumpf ein. Die zerlumpten Schläfer kamen hervorgekrabbelt. Sie redeten wild durcheinander. Die Kleinen klammerten sich zitternd an die Röcke der Mutter, die einen Säugling auf dem Arm trug. Das Gesicht des Mannes war von einem schwarzen Bart zugewuchert. In hündischer Ergebenheit kniete er vor Boysen und duckte sich, als ob er einen Schlag erwartete.
»Poschalsta ... poschalsta«, wimmerte der Bärtige. Das war jedenfalls das einzige von seinen Wörtern, das Boysen verstand. Der Mann war garantiert ein Auswanderer, und er bat die Beamten auf Russisch um irgendetwas. Worum? Boysen wusste es nicht, aber er konnte es sich denken.
»Ihr könnt hier nicht im Freien übernachten«, sagte er lahm. Dabei wusste der Offiziant, dass die zerlumpte Familie ihn nicht verstand. Sie wollten nicht Deutsch lernen, sondern nach Amerika auswandern, wo sie sich ein besseres Leben erhofften. Hamburg war die letzte Station auf ihrer Irrfahrt quer über den europäischen Kontinent. Sie kamen aus den Tiefen des riesigen russischen Zarenreiches, wie schon so viele vor ihnen.
Boysen seufzte und biss die Zähne zusammen.
»Also gut. Gib ihnen dein Frühstück, Okkinga!«
Mit diesen Worten holte Boysen seine eigenen mitgebrachten Butterbrote aus dem Waffenrock und gab sie dem Russen. Dem friesischen Constabler blieb nichts anderes übrig als dem Beispiel seines Vorgesetzten zu folgen. Okkinga überreichte der blassen Frau seine Stullen.
»Chleb«, erklärte Boysen, eines seiner wenigen russischen Wörter benutzend. Die Auswanderer machten sich hungrig über die Butterbrote her, wobei auch jedes der Kinder seinen Teil bekam – abgesehen von dem Kleinsten, das noch an der Brust lag. Boysen hoffte, dass die Mutter genug Milch hatte, um es bis nach Amerika stillen zu können.
Er deutete mit dem Dienststock auf das Ruderboot.
»In Ordnung, dann legt euch wieder hin! Aber seid wenigstens leise und verschwindet im Morgengrauen.«
Der Offiziant wusste natürlich, dass die Auswanderer ihn nicht verstanden. Aber sie folgten seiner Geste. Eigentlich hätten die Ordnungshüter die Familie auf die Brooktor-Wache schaffen müssen. Aber wozu? , fragte sich Boysen. Die wenigen Arrestzellen benötigte er für Messerstecher, Räuber und wütende Trunkenbolde – eben für gefährliches Gesindel.
Boysen wusste, dass die Stadt voll war mit gestrandeten Amerika-Auswanderern. Sie waren bei den Hamburgern nicht beliebt, weil manche von ihnen klauten wie die Raben. Außerdem hieß es, dass sie Krankheiten in die Hafenstadt einschleppen würden. Trotzdem fiel es dem Offizianten schwer, in dieser zerlumpten Familie eine Bedrohung zu sehen.
Es war nicht das erste Mal, dass Boysen und Okkinga ihre Butterbrote an hungrige Elendsgestalten weitergaben. Ihre eigenen Mägen würden einstweilen leer bleiben. Der Offiziant bot seinem Untergebenen einen Priem an.
»Frau Lehmkuhl hat bestimmt auch was Leckeres für uns«, sagte Boysen aufmunternd. »Ich meine, außer ihren Mädchen.«
Okkinga grinste und bediente sich bei dem Kautabak. Die beiden Ordnungshüter wollten ihren Patrouillengang fortsetzen. Da kam ein junger Bursche auf sie zugerannt.
»Polizei! Polizei!«, rief er mit rauer Stimme. Der Mann hatte Boysen und Okkinga gesehen und fuchtelte mit ausgestreckten Armen in der Luft. Der Offiziant kniff die Augen zusammen. Boysen erkannte den Aufgeregten. Dieser hieß Paul Lüders und war ein Tagelöhner, der sich auf der Wandrahminsel hauptsächlich als Karrenschieber sein Brot verdiente. Lüders war ein Heißsporn, den die Constabler schon öfter wegen Schlägereien eingesperrt hatten.
Doch in diesem Moment sprach die nackte Angst aus dem Gesicht des jungen Burschen. Lüders' Unterlippe zitterte unaufhörlich, als die Worte aus seinem Mund drangen.
»Eine tote Frau ... ermordet ... da ist überall Blut ...!«
Aufgeregt deutete der Tagelöhner in Richtung Kehrwiederspitze. Boysen baute sich direkt vor Lüders auf und schnüffelte. Alle Karrenschieber soffen, das war seine Erfahrung. Anders konnten sie die harte Arbeit nicht ertragen. Doch genau jetzt miefte Lüders nur nach Angstschweiß, aber nicht nach Rum oder Bier. Er war nicht blau, sondern musste wirklich etwas Schreckliches
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