Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
wirklich ein Mensch die arme Deern umgebracht hat. Oder ob es nicht doch ein Tier war.«
Der Friese nickte und eilte davon.
»Glauben Sie mir nicht?«, brauste Lüders auf.
»Halt dein Maul!«, murmelte Boysen gedankenverloren und zündete sich eine neue Zigarette an. »Kannst du eigentlich schreiben?«
»Meinen Namen, wenn es sein muss.«
»Das reicht. Du kommst gleich mit auf die Wache. Ich muss deine Zeugenaussage rapportieren, damit alles seine Ordnung hat.«
Während er auf Okkinga und den Arzt wartete, schaute sich Boysen die Umgebung näher an. Das Blut war weit gespritzt. Unvorstellbar, dass die Kleidung des Mörders nichts abbekommen haben sollte. Boysen wettete mit sich selbst, dass das Opfer eine Hure war. Darauf deutete jedenfalls ihre aufreizende Aufmachung hin. Das von Todesangst verzerrte Gesicht war grell geschminkt, das konnte man trotz der Leichenblässe noch gut erkennen. Die Freudenmädchen vom Hafen pflegten ihre Wangen mit billigem Talkumpuder aufzuhellen, die Lippen wurden mit Färberdistel rot angemalt. Die Augenpartie hatte die Frau sich mit Kohlestift nachgedunkelt. Der Offiziant entdeckte die Handtasche des Opfers. Sie war achtlos zur Seite geschleudert worden. Boysen öffnete das Behältnis. Er fand die Quittung eines Pfandhauses, ausgestellt für ein Fräulein Marie Stevens aus dem Bäckerbreitergang. Nun hatte Boysen immerhin Namen und Anschrift des Opfers. Neben dem üblichen Huren-Krimskrams wie Puderdose und den neumodischen Gummi-Kondomen fand er fünf Reichsmark und 30 Pfennige. Ein Raubmord konnte es also wohl kaum gewesen sein.
Aber vielleicht ein Racheakt?
So mancher Schauermann oder Matrose hatte sich bei einem Freudenmädchen schon die Syphilis geholt. Ob die Kleine geschlechtskrank gewesen war? Das würde sich bei der späteren Untersuchung im gerichtsmedizinischen Institut zeigen.
Boysen schaute sich das Kopfsteinpflaster genauer an. Doch es war unmöglich, hier Fußspuren zu entdecken. Die stetige steife Brise vom Norden her wehte Staub und Sägespäne sofort in die Fleete. Der Offiziant nahm seinen hohen Helm ab und kratzte sich nachdenklich am Nacken. Wenn der Mörder seinem Opfer aufgelauert hatte, war er vielleicht zuvor gesehen worden. Ob es möglich war, einen weiteren Zeugen zu finden? Lüders' Aussage war nicht gerade wertlos, aber der Kreis der Verdächtigen war bisher riesig. Es gab tausende von Schauermännern mit durchschnittlicher Statur in Hamburg.
Boysen wurde von seinen Betrachtungen abgelenkt, denn Okkinga kehrte nun in Begleitung von Dr. Ahler zurück. Der Mediziner trug einen verschossenen Bratenrock und einen Zylinder. Auf seinen krummen Säbelbeinen bewegte sich Dr. Ahler schneller, als man es ihm in seinem hohen Alter zugetraut hätte. Sein weißer Vollbart war unter der Nase vom Nikotin gelb gefärbt. Auch zu dieser Nachtstunde hatte er eine glimmende Sumatra-Zigarre zwischen den Zähnen.
»Was gibt es, Boysen?«, bellte Dr. Ahler zur Begrüßung. »Ihr Constabler sagte etwas von einer toten Frau. Mehr habe ich aus diesem friesischen Sturkopf nicht herausgekriegt.«
Der Offiziant schilderte dem Arzt den bisherigen Stand der Dinge. Auch Dr. Ahlers zuckte zusammen, als er die Leiche näher in Augenschein nahm. Er öffnete seine Instrumententasche und kniete sich ächzend neben die Tote.
»Wer immer das getan hat, kommt ganz gewiss nicht in den Himmel«, murmelte der Mediziner. Er betrachtete mit einer Lupe die Wunden am Hals.
»Sie meinen, die Frau kann nicht von einem Tier gerissen worden sein?«, vergewisserte sich Boysen.
»Gerissen ja, aber nicht von einem Tier.« Dr. Ahlers nahm die Zigarre aus dem Mund und deutete damit auf die Wundränder. »Fleischfressende Raubtiere wie Wölfe haben ein ganz anderes Gebiss als wir Menschen. Es fällt ihnen mit ihren vielen Reißzähnen leichter, das Opfer anzufallen. Die Wunden würden bei einem Raubtierbiss ganz anders aussehen. Das hier war ein Mensch. Und er muss viel Wut im Bauch gehabt haben, um die arme Deern so zuzurichten.«
Der Offiziant zog die Augenbrauen zusammen. Es war nicht gerade beruhigend, dass der Mörder noch frei herumlief. Boysen hoffte natürlich auf einen Erfolg seiner spontanen Fahndung. Aber er glaubte nicht daran.
»Ich stelle den Totenschein aus, aber das Mädchen muss in der Gerichtsmedizin genauer untersucht werden«, sagte Dr. Ahler.
Boysen wandte sich wieder an Okkinga. »Du läufst zur Wache und bestellst telegrafisch einen Leichenwagen!«
Der stille Friese
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