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Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)

Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)

Titel: Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Barkawitz
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hatte sich auf Lehnstühlen und Sofas niedergelassen. Henriette Lütke, die Gastgeberin, stand direkt vor den Terrassentüren. In der linken Hand hielt sie die Blätter mit ihren lyrischen Ergüssen, mit der Rechten gestikulierte sie heftig. Und ein strafender Blick ihrer blauen Kulleraugen traf Anna. Offenbar war Henriette doch aufgefallen, dass ihr Gast den Raum verlassen hatte. Die Dichterin deklamierte weiter:
     
     
    »Oh du anmutiger Alster-Schwan
    lässt mich an den Geliebten denken
    dem ich so gern mein Herz wollt schenken
    ein Herr wie aus einem galanten Roman.
     
    Und seh ich in der Nacht eine Sternschnuppe
    Dann steht mein Herz erneut in Flammen
    Wär' ich doch nur mit dir zusammen
    Ich läg' in deinen Armen wie eine glückliche Puppe.«
     
    Es war unerträglich. Anna verstand nicht viel von Gedichten, obwohl auf der Klosterschule am Holzdamm Deutsch eines ihrer Lieblingsfächer gewesen war. Immerhin konnte sie erkennen, dass dieser lyrische Erguss von der Versform her wohl ein Sonett sein sollte. Annas Gesicht war zu einer begeistert lächelnden Maske verzerrt. Am liebsten hätte sie sich sofort davongemacht, um Offiziant Boysen Bericht zu erstatten. Aber wenn sie jetzt ging, wäre Henriette Lütke tödlich beleidigt gewesen und würde möglicherweise Schwierigkeiten machen.
    Endlich war die Beschallung mit Liebesgefühlen vorbei. Die anwesenden jungen Damen applaudierten begeistert, und Anna stand ihnen in nichts nach. Trotzdem kam die Gastgeberin, eine dralle Frauensperson, auf sie zugesteuert. Henriettes Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
    »Bewegende Worte, liebe Henriette!«, rief Anna, um ihrem Gegenüber den Wind aus den Segeln zu nehmen.
    »Wirklich?«, fragte die Tochter von Reeder Lütke ironisch. »Du hast dir doch höchstens die Hälfte meiner Sonette angehört, Anna. Habe ich dich etwa gelangweilt?«
    Das war noch milde ausgedrückt. Aber Anna spürte, dass sie nun diplomatisch vorgehen musste, um nicht als Spionin enttarnt zu werden. Sie konnte sich zwar nicht vorstellen, dass diese mollige Gedichtausscheiderin den wahren Grund für ihren Besuch ahnte. Aber man durfte auch keine schlafenden Hunde wecken. Daher schüttelte Anna energisch den Kopf.
    »Es ist genau umgekehrt, Henriette«, behauptete sie. »Ich musste hinausgehen, weil deine Sonette mich innerlich so stark aufgewühlt haben.«
    Die berühmt-berüchtigte Dichterin warf Anna einen undefinierbaren Blick zu. Der Besucherin blieb nichts anderes übrig als weiterzureden.
    »Du verstehst es meisterhaft, die Liebesglut im Herzen einer jungen Dame zu beschreiben«, schmeichelte Anna. »Solche Formulierungen wie: Ein Herr aus einem galanten Roman – das ist schon sehr gewagt, aber äußerst zutreffend. Deine Worte haben unbeschreibliche Empfindungen in meinem Inneren freigesetzt.«
    Sie kam sich lächerlich vor bei ihrer Lobeshymne. Doch ihr Sermon zeigte Wirkung.
    »Dann haben dir meine Sonette also gefallen?«
    »Ja, ich habe noch niemals Derartiges gehört.«
    Und das war noch nicht einmal gelogen. Allerdings konnte Anna auf ein künstlerisches Erlebnis dieser Art in Zukunft gerne verzichten. Henriette begann zu schmunzeln und stieß Anna ihren Ellenbogen mit plumper Vertraulichkeit zwischen die Rippen.
    »Ich glaube dir, liebe Anna. Deine Wangen glühen förmlich, weil meine Sonette dich so aufgewühlt haben. Es ist schön, wenn man als Künstlerin eine so unmittelbare Wirkung der eigenen Arbeit sehen kann.«
    Anna lächelte, als ob sie in eine saure Zitrone gebissen hätte. Sie nahm sich vor, Boysen gleich am nächsten Morgen aufzusuchen. Er würde es sehr interessant finden, dass Theodor Lütke so gut über den unkeuschen Lebenswandel seines Sohnes informiert war – und dass Carl seit mehreren Tagen in seinem Elternhaus durch Abwesenheit glänzte.
     
    Heinrich Wallmann verfügte über gute Kontakte.
    Es war nicht das erste Mal, dass der ehemalige Gardeoffizier ein Bürgersöhnchen aus einer misslichen Lage herauspauken musste. Daher stellte Wallmann es sich nicht allzu schwer vor, diesen Carl Lütke aufzutreiben. Gleich nach seinem Besuch in der Villa des einflussreichen Reeders begann Wallmann damit, seine Fühler auszustrecken. Er wusste, dass er diesen Auftraggeber nicht enttäuschen durfte. Wenn Wallmann die Erwartungen Lütkes erfüllte, war das eine erstklassige Referenz für weitere Tätigkeiten.
    Wallmann war gut im Geschäft. Manchmal bedauerte er es, dass er die Gardeuniform hatte ausziehen müssen, nachdem er

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