Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
warf sein Zündholz in den Aschenbecher. »Aber Carl ist jetzt schon seit Tagen verschwunden. So lange ist er noch niemals von zu Hause fortgeblieben. Ich befürchte, dass er in ein Verbrechen verwickelt ist. Die Polizei war bereits hier.«
Der Privatdetektiv schnaubte verächtlich.
»Die Constabler? Ich habe keine allzu hohe Meinung von den Plattfüßen, ehrlich gesagt.«
»Ich auch nicht, Herr Wallmann. Da sind wir uns einig. Ich habe meine Verbindungen zum Stadthaus spielen lassen und konnte dafür sorgen, dass keine Ermittlungen gegen meinen Sohn stattfinden werden. Aber ich bin in großer Sorge um Carl. Womöglich ist ihm etwas geschehen. Ich befürchte das Schlimmste. Sie müssen bedenken – er ist der Erbe meines Unternehmens.«
Wallmann nickte ernsthaft. Das Schlimmste, was sich ein Hamburger Pfeffersack vorstellen konnte, war der Untergang seiner Firma. Der eigene Tod erschien demgegenüber beinahe unbedeutend. Umso wichtiger war es, schon zu Lebzeiten einen fähigen Nachfolger aufzubauen.
»Ich vermute, dass Sie nur einen Sohn haben, Herr Lütke?«
Der Reeder nickte düster. »Meine Frau hat mir ansonsten noch drei Töchter geschenkt, aber das tut jetzt nichts zur Sache. – Warum fragen Sie nach weiteren Söhnen, Herr Wallmann? Glauben Sie, Carl ist bereits ...«
Der mächtige Mann konnte den Satz nicht vollenden. Der Detektiv spürte, dass er Lütke nun beruhigen musste.
»Ich denke gar nichts, Herr Lütke. In meiner Branche muss man allerdings mit allen Eventualitäten rechnen. Selbstverständlich werde ich alles tun, um Ihren Sohn wohlbehalten in Ihr Haus zurückzubringen. – Kennen Sie möglicherweise eine Deckadresse von ihm, wo er sich während seiner amourösen Abenteuer aufgehalten hat?«
»Leider nein. Er ist wohl öfter auf St. Pauli gewesen, im Hafen und im Gängeviertel. – Ich hätte ihm diesen verfluchten Trieb mit dem Knüppel austreiben sollen!«, stieß der Reeder frustriert hervor.
»Wissen Sie, ob Carl Opium raucht? Das könnte eine naheliegende Erklärung für sein langes Verschwinden sein. Wer an der langen Chinesenpfeife nuckelt, verliert sich tage- und nächtelang in seinen Rauschträumen.«
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, musste Lütke zugeben. »Es ist gut, einen Mann mit einschlägiger Detektiv-Erfahrung an meiner Seite zu wissen.«
»Ich werde alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.« Wallmann legte seine halb gerauchte Zigarre in den Aschenbecher aus Zinn. »Wenn Sie erlauben, werde ich mich jetzt empfehlen. Es ist gut, dass Sie mich eingeschaltet haben, aber offenbar sind schon einige Tage seit dem Verschwinden Ihres Sohnes vergangen. Daher werde ich unverzüglich meine Ermittlungen aufnehmen.«
Theodor Lütke nickte und schaute seinem Besucher direkt in die Augen.
»Sie sind ein Mann der Tat, das gefällt mir. Wenn Sie Carl unversehrt zu mir zurückbringen, soll es Ihr Schaden nicht sein.«
Anna Dierks hatte genug gehört.
Die junge Frau stand auf dem Korridor im ersten Stockwerk der Lütkeschen Villa. Selbstverständlich lief sie Gefahr, jederzeit beim Lauschen entdeckt zu werden. Aber bisher war die selbsternannte Spionin unentdeckt geblieben. Daher wollte sie ihr Glück nicht unnötig auf die Probe stellen.
Anna hielt sich als Gast von Henriette Lütke im Elternhaus des Hauptverdächtigen auf. Henriette war die älteste Schwester von Carl. Anna hatte ihre Bekanntschaft gesucht, um unauffällig in die Villa an der Elbchaussee eindringen zu können. In den besseren Kreisen Hamburgs war Henriette Lütke als selbsternannte Dichterin berühmt und berüchtigt. Sie hielt auch einen regelmäßigen Literaturzirkel ab, der an diesem Abend in der Villa tagte. Anna hatte Interesse daran geheuchelt, war pünktlich erschienen und hatte sich nach einer halben Stunde hinausgeschlichen.
Es waren derartig viele junge Damen anwesend, dass ihr Verschwinden hoffentlich nicht sofort auffallen würde. Anna würde behaupten, die Toilette aufgesucht zu haben. Es war ihr nicht gelungen, Carls Zimmer zu finden. Aber sie hatte den militärisch aussehenden Herrn in Begleitung des Dieners gesehen und vermutet, dass dieser Mann Theodor Lütke besuchen wollte.
Und so war es auch, wie sie beim Lauschen hatte feststellen können. Annas Wangen brannten vor Aufregung, während sie zum violetten Salon zurückeilte, wo der Lyrikvortrag immer noch in vollem Gang war.
Anna öffnete die Tür einen Spalt breit und schlüpfte hinein. Ein Dutzend junger Frauen in ihrem Alter
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