Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
dass er etwas herausbekommt. Ich werde mich jedenfalls einmal genauer mit diesem Herrn befassen.«
Dazu sollte Boysen schneller Gelegenheit bekommen, als ihm in diesem Moment bewusst war. Anna wollte noch zu einem Treffen des Komitees zur Rettung gefallener Mädchen und verabschiedete sich von dem Offizianten. Boysen nahm die nächste Pferde-Straßenbahn nach St. Pauli. Auf der Davidwache wurde er bereits vom wachhabenden Constabler erwartet.
»Gut, dass Sie kommen, Offiziant Boysen. Uns wurde gerade ein Mord gemeldet.«
»Eine Hure?«, fragte Boysen, dem Übles schwante. Hatte der Schauermann etwa schon wieder zugeschlagen?
Aber der Constabler schüttelte den Kopf. »Ein Mann, heißt es. Soweit man das noch erkennen konnte ... Ich habe erst mal zwei Kameraden zum Tatort geschickt, damit keine Spuren vernichtet werden.«
Boysen bekam von dem Constabler eine Adresse am Pinnasberg genannt. Er eilte sofort dorthin. Der Offiziant hatte immer noch ein flaues Gefühl in der Magengegend. Er hatte eine vage Vorahnung, dass die Bluttat mit seinem Schauermann-Fall zu tun haben könnte.
Vor der offenstehenden Tür der Pfandleihe am Pinnasberg 16 stand ein Constabler, den Boysen nicht kannte. Das Gesicht des Mannes war verschwitzt und totenbleich.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte er zur Begrüßung. Seine Stimme klang leise und rau. Es war offensichtlich, dass er gegen die Übelkeit kämpfte.
»Wer hat die Leiche gefunden?«, wollte Boysen wissen.
»Die Reinemachefrau. Sie sitzt jetzt in der Küche und hat eine halbe Flasche Klaren getrunken. Wer könnte es ihr verdenken?«
»Wo befindet sich der Tote?«
»In einer Kammer hinter dem Ladenlokal. Wir haben alles unverändert gelassen.«
Boysen klopfte dem Untergebenen kurz auf die Schulter und betrat dann die Pfandleihe. Hinter Eisengittern lagerten Uhren, Schmuck, Essbestecke und andere Wertgegenstände. Sogar Federbetten befanden sich in den Lagerräumen des Pfandleihers.
Der Offiziant bemerkte ein fortlaufendes Geräusch, das er nicht sofort zuordnen konnte. Während er den Laden durchquerte, fiel es ihm ein. Es war das leise Weinen und Schluchzen einer Frau.
Boysen erblickte eine weitere Polizeiuniform. Constabler Holst von der Davidwache stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor der offenstehenden Kammertür. Auch er schien kein großes Interesse daran zu haben, der Leiche zu nahe zu kommen. Der Offiziant schaute Holst ins Gesicht und nickte ihm zu. Der Constabler wiederholte die Geste schweigend. Es gab nichts, was gesagt werden musste. Jedenfalls nicht im Moment.
Boysen war nicht unvorbereitet, trotzdem traf ihn der Anblick des Leichnams wie ein Schlag in die Magengrube. Immerhin konnte Boysen das Mordopfer sogleich identifizieren.
Es handelte sich um den Privatdetektiv Heinrich Wallmann, dem sein letzter Auftrag offenbar kein Glück gebracht hatte. Er war geköpft worden. Seine im Tod verzerrten Gesichtszüge drückten pures Entsetzen aus.
Boysen runzelte die Stirn. Der Körper des Ermordeten war mit kleinen Messerwunden übersät. Der Offiziant hatte derartige Leichname schon gesehen, allerdings nicht in Hamburg, sondern in China.
In dem fernöstlichen Kaiserreich wurde diese Art der Hinrichtung »Tod der tausend Schnitte« genannt. Es war für einen Chinesen die entehrendste Art, ums Leben zu kommen.
Boysen wusste genau, wer den Detektiv auf dem Gewissen hatte. Kwan Lok – und er selbst, Boysen.
Wenn der Offiziant nicht den Drachenkopf des chinesischen Geheimbundes auf Carl Lütke angesetzt hätte, würde Wallmann vermutlich noch leben und weiterhin der Polizei Schwierigkeiten machen. Boysen fand den Privatschnüffler zwar stets zum Speien – aber den Tod hatte er nicht verdient.
Immerhin schien Wallmann vor seinem unrühmlichen Ableben etwas herausgefunden zu haben. Ob es möglich war, dass er den Unterschlupf von Carl Lütke gefunden hatte? Boysen schaute sich genauer in der kleinen Kammer um. Leider gab es außer viel Blut und Dreck nur alte Zeitungen und leere Schnapsflaschen zu sehen. Der fleckige Bettbezug ließ auf ein reges Liebesleben schließen.
Boysen beschloss, die Hausbewohner zu befragen. Es war nicht schwer, die Küche und die dort hockende Reinemachefrau zu finden. Er musste nur dem Geräusch des leisen Schluchzens folgen.
Die Zeugin war eine Frau mit grauem Haar, grauem Kleid und undefinierbarem Alter. Sie konnte 30 Jahre, aber genauso gut auch doppelt so alt sein, wie Boysen aus Erfahrung wusste. Das
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