Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
atemberaubend.
Wallmann leuchtete in die Kammer. Dort herrschte ein unbeschreibliches Chaos. Der Detektiv erblickte ein Feldbett mit zerwühlter schmutziger Wäsche, die zahlreiche Flecken von Körperflüssigkeiten aufwies. In den Ecken lagen Stapel alter Zeitungen, Dutzende von leeren Schnapsflaschen standen herum. Auf dem Bettvorleger entdeckte Wallmann die Ursache der ekelhaften Geruchsbelästigung: Einen blutgetränkten Seemannspullover.
Der Detektiv zwang sich dazu, rational zu denken. Die Furcht hatte ihn fest in ihren Klauen. Noch niemals zuvor hatte er eine solche Angst empfunden, auch auf dem Schlachtfeld von Sedan nicht. Plötzlich musste Wallmann an die Gerüchte denken, die seit einigen Tagen in den Köminseln und Pieseleien von Hamburg die Runde machten. Ein Vampir sollte angeblich im Hafen sein Unwesen treiben – eine Nachtgestalt aus den tiefen Wäldern der Karpaten, ein dämonischer Unhold, der über Seemannshuren herfiel.
Bisher hatte der Detektiv diese Schauergeschichten als Ammenmärchen abgetan. Aber der Anblick dieser finsteren blutigen Kammer mitten in der Nacht ließ ihn seine Meinung ändern. In diesem Moment glaubte Heinrich Wallmann wirklich an die Existenz von Blutsaugern.
Ein Knacken hinter ihm ließ den Detektiv zusammenzucken. Gerne hätte er sich eingeredet, dass das Geräusch auf arbeitendes Holz zurückzuführen war. Oder auf ein schwer beladenes Fuhrwerk, das draußen mitten in der Nacht den Pinnasberg hinab Richtung Hafen fuhr. Immerhin wusste Wallmann nun, dass seine Sinne ihn nicht getrogen hatten. Er war wirklich nicht allein in der Pfandleihe.
Der Detektiv drehte sich um. Er war erleichtert und erschrocken zugleich.
Erleichtert, weil vor der offenstehenden Kammertür kein Untoter mit langen Fangzähnen erschienen war, der nur darauf wartete, seine Hauer in Wallmanns Hals zu schlagen.
Und erschrocken, weil ihm stattdessen drei junge Chinesen gegenüberstanden. Keiner der Männer sah so aus, als ob er besonders gut auf Wallmann zu sprechen wäre. Die fernöstlichen Besucher lächelten. Aber Wallmann wusste aus Erfahrung, dass dies keineswegs bedeutete, dass sie ihm freundlich gesonnen waren.
»Was wollt ihr?«, bellte er in seinem schärfsten Offiziers-Anschnauzton. Die Chinesen trugen graue oder dunkelblaue wattierte Jacken, Leinenhosen in denselben Farbtönen sowie Stoffschuhe und Tuchmützen ohne Schirm. So waren in China die Armen gekleidet, wie Wallmann wusste. Vermutlich waren es Kulis oder Heizer von einem der China-Dampfer. Der Henker mochte wissen, was diese Kerle mitten in der Nacht in einer Pfandleihe verloren hatten.
Von Wallmanns Kommandostimme ließen sie sich jedenfalls nicht beeindrucken. Die Chinesen machten sich noch nicht einmal die Mühe, zu antworten. Stattdessen zogen sie wie auf einen lautlosen Befehl hin Fächer aus ihren Jacken.
Es waren Eisenspitzenfächer, wie der Detektiv erst auf den zweiten Blick im fahlen Licht der Blendlaterne erkannte. Die Männer aus Fernost hatten keine Lichtquellen bei sich. Wallmann begriff nun, dass er keine harmlosen Kulis vor sich hatte, sondern Mitglieder eines chinesischen Verbrecher-Geheimbundes. Auch der Detektiv verzichtete nun darauf, weiterhin Worte zu verlieren. Er zog seine Mauser-Selbstladepistole im Kaliber 6,35 mm aus der Tasche, zielte und drückte ab.
Eine Feuerzunge leckte aus der Mündung, gleichzeitig knallte der Schuss und einer der Chinesen ging zu Boden. Doch dessen Kameraden waren noch einsatzfähig. Und sie gaben Wallmann keine Gelegenheit, einen weiteren Schuss abzufeuern.
Der ehemalige Offizier schrie auf, als einer der Eisenfächer geworfen wurde und in seinen Waffenarm schlug. Die rasiermesserscharfen Spitzen rissen sein Fleisch auf. Im nächsten Moment flog der zweite Fächer und säbelte dem Detektiv das linke Ohr ab.
Wallmann ging zu Boden. Er hörte sein eigenes Blut rauschen. Dann sah er, wie die Chinesen über ihm waren, ihn auf den Teppich drückten und kurze Messer aus ihren Hosentaschen zogen. Die Männer aus Fernost hatten ihr Lächeln immer noch nicht abgelegt, als sie begannen, sich den Detektiv vorzunehmen.
Es dauerte quälend lange Minuten, bis Wallmann durch eine gnädige Ohnmacht von seinen Schmerzen erlöst wurde. Er hatte das Bewusstsein verloren und verblutete einige Zeit später.
8. Kapitel: Der Bestie auf den Fersen
Trotz des deprimierenden Anblicks der Leichenwagen auf den Straßen hatte Boysen am nächsten Morgen gute Laune. Das war zweifellos
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