Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
Außerdem musste sich der Offiziant eingestehen, dass er die junge Frau gern wiedersehen wollte.
Kurz entschlossen fuhr er mit der Pferde-Straßenbahn in den gediegenen Elb-Vorort. Annas Adresse war ihm bekannt. Ihr Elternhaus wirkte kaum weniger prächtig als die Villa der Lütkes. Eine Hausangestellte ließ Boysen herein. Er bat darum, mit Anna sprechen zu dürfen.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis die junge Frau in dem Salon erschien, wo Boysen warten musste. Annas Gesicht zeigte freudige Überraschung.
»Offiziant Boysen! Was führt Sie zu mir?«
Der Uniformierte zog das gebundene Buch aus seinem Waffenrock.
»Carl Lütkes Tagebuch«, sagte er mit leiser Stimme. Anna riss ihre schönen Augen weit auf. Sie setzte sich auf eine Ottomane und deutete an, dass Boysen neben ihr Platz nehmen möge. Das tat er nur allzu gern. Der Offiziant schlug das Buch auf und hielt es so, dass Anna mitlesen konnte.
Schon bald wurde das Gesicht der jungen Frau von einer starken Röte überzogen. Das verwunderte Boysen nicht, denn Carl Lütke beschrieb genüsslich seine geschlechtlichen Erlebnisse mit Strichmädchen. Bei den Schilderungen nahm er kein Blatt vor den Mund.
»Ich ... bin wirklich froh, dass meine Eltern heute Abend einer Einladung der Handelskammer gefolgt sind«, sagte Anna mit belegter Stimme. »Nicht auszudenken, wenn sie erführen, dass ich so ... einen Schmutz lesen muss. Das ist ja beinahe schon pornografisch!«
»Zweifellos«, stimmte Boysen unbeeindruckt zu. »Aber ich kann aus Carl Lütkes frivolen Liebesabenteuern kein Motiv für die Bluttaten ableiten, ehrlich gesagt. Bisher hatte ich angenommen, der Täter wäre von einem irrsinnigen Frauenhass getrieben. Aber davon ist hier nichts zu bemerken.«
»Sind wir vielleicht auf der falschen Spur, Offiziant Boysen?«
»Ausgeschlossen.« Boysen blätterte eine weitere Seite um. »Alle Hinweise deuten auf Carl Lütke. Der Manschettenknopf, die Verkleidung als Schauermann, sein nächtliches Herumtreiben im Gängeviertel, die lange Abwesenheit von seinem Elternhaus. Aber als Polizist benötige ich immer ein überzeugendes Motiv für ein Verbrechen. Ein Irrer würde die Frauen umbringen, weil er krank im Kopf ist. Aber Carl Lütke ist nicht wahnsinnig, seine Tagebucheintragungen machen einen normalen Eindruck.«
»Normal?«, fragte Anna pikiert nach. »Diesen abnormen ... Geschlechtstrieb finden Sie normal?«
Boysen zuckte mit den Schultern. »Abnorm? Carl Lütke hat eben männliche Bedürfnisse. Solange er bei seiner Triebbefriedigung keine Gesetze verletzt, ist das höchstens moralisch verwerflich.«
Anna war über Boysens Worte schockiert. Aber gleichzeitig musste sie sich eingestehen, dass sie nur höchst theoretisch über diese Dinge reden konnte. Bisher hatte sie einen jungen Herrn noch nicht einmal geküsst, von weiterführenden Dingen ganz zu schweigen. Anna musste an den heißen Traum von Boysen denken, den sie einmal gehabt hatte. Das machte sie unruhig. Sie versuchte, sich auf den Kriminalfall zu konzentrieren.
»Sehen Sie, die Tagebuchaufzeichnungen enden am 19. August 1892.«
Boysen kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Das war ein Tag, bevor Marie Stevens angefallen wurde. Carl Lütke hat also seitdem nichts mehr in sein Tagebuch geschrieben. Vielleicht ist er gar nicht mehr in seinem Unterschlupf gewesen. Die Pfandleiher-Familie kann ich nicht fragen, die sind alle schwer an der Cholera erkrankt. Oder bereits an der Seuche gestorben.«
»Sie glauben also, dass etwas geschehen ist, das die Mordlust bei Carl Lütke auslöste, Offiziant Boysen?«
»Ja, das glaube ich, Fräulein Dierks.«
»Und was?«
Boysen ließ ein bitteres Grinsen sehen. »Ich habe keine zündende Idee, ehrlich gesagt. Jetzt geht es hauptsächlich darum, den Täter endlich zu stoppen. Wenn wir ihn kaltgestellt haben, können wir immer noch herausbekommen, was ihn zu diesen Bluttaten getrieben hat.«
»Carl Lütke kann überall und nirgends sein«, seufzte Anna. »Es ist wirklich zu ärgerlich, dass sein Vater die Ermittlungen unterdrückt hat. Wenn Sie mehr Männer für die Suche zur Verfügung hätten ...«
Boysen nickte bedeutungsschwanger. Er würde Anna ganz gewiss nicht auf die Nase binden, dass er eine Hilfstruppe von chinesischen Halsabschneidern auf den flüchtigen Bürgersohn angesetzt hatte. Alles musste Anna schließlich nicht wissen.
»Ich werde meine Bemühungen verstärken.« Boysen formulierte absichtlich schwammig. »Die Bekämpfung der
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