Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
harte Arbeitsleben und die vielen Geburten ließen die jungen Mädchen aus dem einfachen Volk schnell verwelken.
»Ich bin Offiziant Lukas Boysen. Und wie heißen Sie?«
Die Frau blickte ihn aus blassblauen Augen an. Der Alkohol hatte ihre eingefallenen Wangen gerötet. »Mein Name ist Luise Falker«, brachte sie hervor. »Ich arbeite seit drei Jahren für die Familie Cohen.«
»Wo finde ich den Pfandleiher und seine Familie?«
»Auf dem Friedhof und in der Cholera-Baracke, Offiziant Boysen. Das jüngere Kind und der Mann sind gestorben, der Rest der Familie hat auch die Seuche und ist in Behandlung.«
Boysen nickte und machte sich Notizen. Er hatte sich schon so an den beißenden Gestank des Karbols und der anderen Desinfektionsmittel gewöhnt, dass ihm dieser Geruch hier gar nicht mehr auffiel. Aber wenn die Kalkkolonne die Pfandleihe vom Dachboden bis zum Keller gereinigt hatte, dann mussten sie auch in Lütkes Kammer gewesen sein – falls das Zimmer denn dem Blankeneser Bürgersohn gehört hatte.
»Erzählen Sie mir, was heute geschehen ist, Frau Falker!«
Die Putzfrau schaute erst Boysen, dann die Flasche mit dem Kornbrand an. Der Offiziant warf ihr einen ermutigenden Blick zu. Mit zitternden Fingern goss sie sich das Schnapsglas erneut voll und kippte die Flüssigkeit in einem Zug herunter. Danach fühlte Luise Falker sich offenbar in der Lage, die Ereignisse noch einmal innerlich Revue passieren zu lassen.
»Ich ... ich soll das Haus in Schuss halten. Die Herrschaften haben mich immer ordentlich bezahlt. Ist ja schon schlimm genug, dass die Krankheit so gewütet hat in der Familie. Ich hab' auch einen eigenen Schlüssel. Also bin ich in der Früh gekommen, wusste ja auch nicht, ob der junge Herr da ist ...«
Boysen unterbrach Frau Falker mit einer Zwischenfrage. »Von welchem jungen Herrn sprechen Sie? Von dem Mann, der die Kammer bewohnt, in der ...« Er ließ den Satz unvollendet.
Luise Falker nickte und kämpfte bereits wieder mit den Tränen. Aber dann sprach sie weiter. »Ja, Herr Cohen hatte ihn als Untermieter. Mich geht es ja nix an, aber sein Zimmer hat er verkommen lassen. Ich durfte da nich' rein, sonst wäre das nicht so ein Schweinestall, das können Sie mir glauben.«
»Kennen Sie den Namen von dem jungen Herrn?«
Die Reinemachefrau schüttelte den Kopf. Boysen versuchte, Carl Lütke möglichst genau zu beschreiben. Er hatte diesem Mann noch niemals von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, aber durch Anna wusste er einigermaßen, wie der Verdächtige aussah. Luise Falker wiegte den Kopf.
»Ja, das könnte der junge Herr sein. Ich hab' ihn selten zu Gesicht bekommen.«
»Sie betraten also die Pfandleihe.« Boysen kam auf den Bericht zurück. »Was geschah dann?«
»Ich wollte mir meinen Schrubber und den Aufnehmer aus dem Besenschrank holen. Da hab' ich dann sofort den Toten gesehen. Die Kammertür stand weit offen. Ich dacht', mich trifft der Schlag. Ich wusst' ja nicht, ob der Mörder noch im Haus ist. Also hab' ich um Hilfe gerufen und bin raus auf die Straße gerannt. Na, und zum Glück kamen dann gleich die zwei Udels.«
Boysen machte sich weiterhin Notizen. Er schrieb sich die Adresse der Zeugin auf. Dann verabschiedete er sich von ihr und ging nachdenklich hinaus.
»Ein Fenster wurde aufgehebelt und eine Seitentür aufgebrochen«, sagte Constabler Holst. »Das haben wir schon herausgefunden. Es sieht so aus, als ob an zwei Stellen gleichzeitig eingebrochen worden wäre.«
»Gute Arbeit«, murmelte Boysen. »Lasst die Leiche fortschaffen, Totenschein ausstellen und so weiter! Wir sehen uns später auf der Wache.«
Als der Offiziant die Pfandleihe verließ, spürte er eine unbestimmte Wut im Bauch. Teils war er auf Kwan Lok sauer, teils auf sich selbst. Boysen bereute schon zutiefst, dass er den chinesischen Verbrecher-Geheimbund in seine Ermittlungen einbezogen hatte. Aber diese Suppe hatte er sich selbst eingebrockt, nun würde er sie auch auslöffeln müssen. Boysen war jedenfalls sehr gespannt, wie der alte Chinese ihm das Gemetzel erklären würde.
Boysen begab sich sofort in die Schmuckstraße. Die Opiumhöhle war wieder gut besucht, obwohl es noch Vormittag war. Aber die Süchtigen hatten ohnehin kein Zeitgefühl mehr. Kwan Lok hockte vor seinem Go-Brett. Er schien sich nicht vom Fleck gerührt zu haben, seit Boysen das letzte Mal mit ihm geredet hatte. Vielleicht traf das ja sogar zu.
»Welch' ein freudiger Besuch in meinem unwürdigen Gemach«, sagte Kwan
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