Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
auf die Liebesdienste der dicken Stine zurückzuführen. Der Offiziant hatte sich am Vorabend davon überzeugen können, dass der große Bluterguss auf ihrem Bauch allmählich abheilte. Und Gustav, der Zuhälter, verhielt sich neuerdings gegenüber der jungen Frau »wie ein feiner Herr« – nach Stines eigenen Worten.
Boysen war sehr stolz darauf, dass er dem Luden mit seinen Verbindungen zu den Chinesen aus der Schmuckstraße gedroht hatte. Dadurch hatte er offenbar bei Gustav einen nachhaltigen Sinneswandel bewirkt.
Allzu lange hielt Boysens gute Laune allerdings nicht an. Er war auf seinem Weg zur Brooktor-Wache, als ein junger Constabler auf ihn zugeeilt kam. Der Milchbart legte grüßend seine Rechte an den Helmrand.
»Offiziant Boysen? Ich wollte gerade zu Ihnen nach Hause. – Sie müssen heute Vertretungsdienst in der Davidwache übernehmen und die Tagesschicht dort leiten. Anweisung vom Stadthaus.«
»So, muss ich das«, brummte Boysen. »Und wieso?«
»Offiziant Reker ist an der Cholera erkrankt und nicht dienstfähig.«
Das tat Boysen leid, der Reker als einen fähigen und besonnenen Polizisten kennengelernt hatte. Trotzdem missfiel es ihm, auf einer fremden Wache Dienst schieben zu müssen. Am Brooktor genoss er mehr oder weniger Narrenfreiheit. Er konnte in einem gewissen Rahmen das tun, was er wollte. Auf der Davidwache hingegen würde er vorsichtig sein müssen. Aber vielleicht fand er trotzdem einen Weg, seine verbotenen Ermittlungen gegen Carl Lütke weiterzuführen.
»Ich mache mich sofort auf den Weg nach St. Pauli«, versicherte Boysen dem jungen Constabler. Um seinen guten Willen zu demonstrieren, änderte er die Richtung und eilte auf die nächste Haltestelle der Pferde-Straßenbahn zu.
Es war sehr heiß, schon am Morgen. Eine Desinfektionskolonne kam vorbei. Das Wasser stank in den Fleeten. Boysen stand am Meßberg und wartete auf die Bahn. Er war nicht religiös, aber er schickte trotzdem ein Stoßgebet um Regen in den strahlend blauen Sommerhimmel.
Die entgegenkommende Pferde-Straßenbahn aus Blankenese traf ein. Aus dem hinteren Waggon stieg Anna Dierks. Sie hatte Boysen sofort entdeckt und kam winkend auf ihn zu.
Der Offiziant bemerkte, dass sie in ihrem cremefarbenen Sommerkleid mit dem dazu passenden wagenradgroßen Hut wirklich eine anmutige Erscheinung war. Schon am Vorabend, bei der zufälligen Begegnung in Teufelsbrück, hatte ihr Anblick sein Herz erwärmt. Doch ihm war bewusst, dass Welten zwischen ihm selbst und dieser schönen jungen Dame aus dem Großbürgertum lagen. Es war nicht gut für Boysen, Anna als begehrenswerte Frau zu sehen.
Er rief sich den Anblick der nackten Stine ins Gedächtnis zurück, die in der vorigen Nacht lustvoll unter ihm gestöhnt hatte. Boysen musste über sich selbst grinsen und hoffte, dass Anna nicht seine Gedanken erraten konnte.
»Guten Morgen, Offiziant Boysen. Es freut mich zu sehen, dass es Ihnen gut zu gehen scheint.«
»Guten Morgen, Fräulein Dierks«, erwiderte Boysen und salutierte. »Was führt Sie so früh am Morgen schon auf den Meßberg?«
»Ich wollte zu Ihnen.« Anna senkte die Stimme und trat einen Schritt näher an Boysen heran. »Stellen Sie sich vor, ich konnte gestern der Familie Lütke einen Besuch abstatten ...«
Boysen war ganz Ohr. Anna berichtete von dem regelmäßig stattfindenden Lyrikabend, zu dem sie gegangen war. Aber hauptsächlich erzählte sie, was sie an der Tür zum Herrenzimmer hatte aufschnappen können. Der Offiziant nickte grimmig. Er ließ eine Pferde-Straßenbahn fahren. Der Dienst musste warten, Annas Informationen waren ihm jetzt wichtiger.
»So, dann befindet sich der Filius also gar nicht in der elterlichen Trutzburg. Und der Herr Papa macht sich Sorgen über seinen missratenen Sprössling. Soviel Sorgen, dass er den Bluthund Wallmann auf seine Spur setzt.«
»Kennen Sie diesen Herrn, Offiziant Boysen?«
»Allerdings, Fräulein Dierks. Wallmann ist ein Aufschneider und Gernegroß, der sich als Privatdetektiv einen Namen gemacht hat. Ich muss einräumen, dass er gewisse Erfolge vorzuweisen hat. Er arbeitet allerdings nur für gutbetuchte Herrschaften, und seine Methoden sind äußerst fragwürdig.«
Letzteres traf zwar auch auf ihn selbst, Boysen, zu. Aber das musste er ja Anna nicht auf die Nase binden. Die junge Blankeneserin schaute ihn neugierig an.
»Was werden Sie nun tun?«
»Dank Ihrer Information weiß ich nun, dass Wallmann ebenfalls nach Carl Lütke Ausschau hält. Möglich,
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