DER SCHAWINSKI CODE – Die Biografie von Roger Schawinski (German Edition)
So griff der Schüler, noch im Taumel seiner Emotionen, wenige Stunden nach dem Attentat auf den amerikanischen Präsidenten, in die Tasten: «Präsident John F. Kennedy ist tot! Eben habe ich diese Nachricht erhalten. Ich stehe da, mit offenem Mund. Er ist tot. Nochmals, eindringlicher, schleudert meine Schwester mir diesen Satz ins Gesicht. Ich kann es einfach nicht glauben. Ich versuche im Buch weiterzulesen, das ich vor mir habe, doch die Buchstaben verschwimmen vor meinem Auge. Nur mit Mühe kann ich sie noch entziffern, aber ich kann ihren Sinn nicht mehr aufnehmen. Die einzelnen Buchstaben formen auf einmal keine Worte, keine Sätze mehr. Sie stehen einfach da, ein Buchstaben nach dem anderen. So geht das fünf Minuten. Ich lege das Buch zur Seite. Langsam begreife ich die Bedeutung des Satzes: Kennedy ist tot.»
Am Transistorradio hörte Schawinski, Kennedy sei im offenen Wagen durch Dallas gefahren, als ihn plötzlich drei Schüsse aus dem fünften Stock eines Hochhauses trafen, einer davon in den Kopf. «Wer mag es wohl gewesen sein?» tippte er weiter. «Ich bete zu Gott, was ich sehr selten tue, dass es weder ein Neger noch ein Jude gewesen ist. Für beide Volksrassen wären die Konsequenzen katastrophal. Der Negerhass oder der Antisemitismus würden Blüten treiben, wie ihn kein normaler Mensch, sondern nur die Archive der Naziverbrechen ausdenken könnten. Was würde geschehen, wenn es ein Russe sein würde? Ich brauche den Gedanken, der mich jetzt berührt, gar nicht auszusprechen, jedermann weiss, was uns dann blühen könnte.»
Später an diesem Abend – soeben wurde als Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson bekanntgegeben – sorgte sich der 18jährige an der Birmensdorferstrasse 65 bereits über die politischen Konsequenzen der Bluttat: «Er wird es schwer haben, der gute Johnson. Sehr viel von seiner politischen Karriere wird von der Haltung der Russen abhängen. Werden sie weiter auf der weichen Welle schaukeln, oder werden sie Morgenluft wittern und ihm das Leben so sauer wie möglich machen? Zuerst muss er die festgefahrene Allianz für den Fortschritt in Südamerika wieder flott machen. Auch das Kuba-Problem harrt einer endgültigen Erledigung. Während er sich mit einem störrischen Charles De Gaulle in Europa wird herumschlagen müssen, wird ihm sicher der schwarze Kontinent noch viel Mühe bereiten. Auf jeden Fall wünsche ich ihm viel Glück für seine wahrscheinlich kurze Amtsdauer. Ich hoffe, dass seine Handlungen noch vom Geist seines Vorgängers bestimmt sein werden, der heute Abend gestorben ist.»
Gegen Mitternacht wurde es Zeit, zum Schluss überzuleiten: «Es ist unterdessen spät geworden. Vor vier Stunden fuhr Kennedy mit einem Wagen neben seiner Frau noch durch die Strassen von Dallas. Jetzt sitzt sie irgendwo neben seinem Sarg und wird sicher genau das gleiche empfinden wie jede Frau, deren Mann ermordet wurde. Ich möchte mein tiefstes Beileid Frau Jacky Kennedy und allen, allen Frauen auf der ganzen Welt aussprechen, die um ihre Männer weinen. Vom heutigen Tage an werde ich mich noch viel mehr gegen jeden Mord auflehnen und entsetzen, denn ein Menschenleben ist das Kostbarste, was wir besitzen und es zu zerstören ist Sünde. Das tönt jetzt sehr nach Bibel und Religionsschule. Ich hoffe aber, dass mich jedermann gut versteht und mir nicht falsche Sentimentalität vorwirft.»
Ein Jahr später, 1964, nahm Schawinski bei der Schlussfeier in der Aula der Handelsschule Freudenberg sein Diplom entgegen. Jetzt nur nicht auf eine Bank oder zu einer Versicherung, schwor er sich im selben Augenblick.
Magisch zog es ihn in die Werbebranche. «Dorthin gingen alle glatten Typen, die etwas Kreatives machen wollten», begründet er. Bei Wiener & Deville absolvierte er ein Praktikum, und weil er schon immer möglichst hoch hinaus wollte, belegte er nebenbei einen Assistentenkurs am Emil-Oesch-Institut. Als jedoch die Agentur eine Kampagne für filterlose Primera-Zigaretten startete, die jungen Leuten eine revolutionäre Che-Guevara-Attitüde vorgaukelte, rieb er sich die Augen. «Wo bin ich bloss gelandet», fragte er sich, «will ich wirklich, dass noch mehr Jugendliche rauchen?»
Als er zu guter Letzt herausfand, dass die Taxispesen seines Chefs seinen Praktikantenlohn von monatlich 500 Franken weit überstiegen, hatte er die Nase voll. «Er hat sich auch auf dem Gebiete der Werbetexte mit einigem Erfolg versucht», heisst es im Arbeitszeugnis von Max Wiener, «im Gesamten
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