Der Scheich
vergaß Diana allmählich den Autor über seinem Werk. Die spannende Geschichte handelte von der Liebe und Treue eines Mannes. Schließlich legte sie das Buch beiseite und seufzte bitter. So etwas geschah nur in Romanen - das wirkliche Leben sah anders aus. Mit kummervollem Blick sah sie sich um, betrachtete das Sammelsurium aus Besitztümern des Scheichs und ihren eigenen Sachen. Auf dem Toilettentisch lagen ihre elfenbeinernen Kämme zwischen seinen Bürsten und Rasiermessern. Dann beugte sie sich über das Kissen neben ihr, wo sein Kopf jede Nacht ruhte, und hauchte einen Kuß auf den seidenen Bezug. «Ahmed - oh, Monseigneur!» flüsterte sie sehnsüchtig.
Dann sprang sie ungeduldig auf und schlüpfte in ihre Reitstiefel. Sie zog einen weichen Filzhut tief in die Stirn, ergriff das Halfter mit dem Revolver und musterte ihn. Als sie den Gurt um ihre schmale Taille schlang, verzogen sich ihre Lippen zu einem sonderbaren Lächeln.
Draußen wartete Gaston mit den Pferden. Bei Dianas Anblick lächelte er aufrichtig erfreut. Während Diana sich zum Aufbruch bereitmachte, war sie ein wenig verlegen gewesen. Der Gedanke an den letzten gemeinsamen Ausritt war ihr noch immer unangenehm. Aber sie wußte seit ihrer Heimkehr in jener Nacht, daß er ihr nicht grollte. Seine besorgte Miene und die gestammelten, an den Scheich gerichteten Worte hatten nicht seinem eigenen Schicksal gegolten, sondern er hatte befürchtet, sein Herr und Gebieter könnte Diana bestrafen.
Jetzt ritt sie einen Schimmel namens Tänzer, der nicht so schnell dahinsprengte wie Silberstern und ziemlich nervös war. Wann immer er losrannte oder gezügelt wurde, tänzelte er auf den Hinterbeinen wie ein Zirkuspferd. Und er ließ sich nur ungern besteigen. Als Diana einen Fuß in den Steigbügel schob, scheute er zurück. Aber sie schwang sich auf seinen Rücken, und nachdem er sein haute école [Hohe Schule]-Spektakel beendet hatte, saß auch Gaston im Sattel. «Sicher könnte ich mit Tänzer bei einem Concours Hippique [Reit- und Fahrtournier] auftreten!» rief sie lachend über die Schulter und spornte den Schimmel an. Sie hoffte, ein stürmischer Galopp würde sie ermüden und von ihren traurigen Gedanken ablenken. Und das Pferd befriedigte beide Bedürfnisse. Unentwegt mußte sie auf seine Launen achten. Sich selbst und ihm zuliebe ließ sie die Zügel schießen. Die frische Luft und die Bewegung verscheuchten die Kopfschmerzen, und sie empfand eine Heiterkeit, die sie fast glücklich stimmte. Nach einer Weile zügelte sie den Schimmel und winkte Gaston an ihre Seite. «Erzählen Sie mir von diesem Vicomte de Saint Hubert, der uns besuchen wird. Ich nehme an, Sie kennen ihn, da Sie schon so lange für Monseigneur arbeiten.»
«Oh, ich kannte ihn schon, bevor er Monseigneur begegnete», erwiderte der Diener lächelnd, «denn ich wurde auf Monsieur le Comte de Saint Huberts Landsitz geboren, und Monsieur le Vicomte ist sein Sohn. Mein Zwillingsbruder Henri und ich wurden in Monsieur le Comtes Rennstall ausgebildet. Nachdem wir bei der Kavallerie unseren Wehrdienst abgeleistet hatten, wurde Henri Monsieur le Vicomtes Kammerdiener, und Monseigneur engagierte mich.»
Nachdenklich nahm Diana den Hut ab und strich sich über die Stirn. Vor fünfzehn Jahren mußte Ahmed etwa zwanzig gewesen sein. Warum leistete sich ein arabischer Scheich in diesem Alter - oder überhaupt - eine Extravaganz wie einen französischen Kammerdiener? Und wieso war ein Franzose bereit, in der Wildnis dieser Wüste einem Eingeborenen zu dienen? Immer neue Rätsel schienen sich um das Geheimnis des Mannes zu ranken, den sie liebte. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Warum sollte ein arabischer Scheich keinen europäischen Diener beschäftigen? Hoffnungslos verwirrt, gab sie es auf, sich den Kopf darüber zu zerbrechen.
Sie wandte sich an Gaston, um ihn weiter nach dem erwarteten Gast auszufragen, und beruhigte den aufgeregten Tänzer, so gut es ging. Mit großen Augen musterte sie den Diener und fächelte sich mit ihrem Hut Kühlung zu. Gaston, dessen Pferd still wie eine Statue dastand, wischte sich die schweißnasse Stirn ab, und Diana beschloß, ihn nicht weiter zu quälen. Da Gaston im Hause de Saint Hubert groß geworden war, würde er gewiß nicht vorbehaltlos über die Familie sprechen. Außerdem zog sie es ohnehin vor, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Nur eine einzige Frage gestattete sie sich noch: «Gehört die Familie Saint Hubert zum alten oder zum neuen Adel?»
«Zum
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