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Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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sie. Ihr wurde nun auch bewusst, dass dieses Zimmer ihr nicht vertraut war. Es schien ihr Schicksal zu sein, sich ständig in fremden Umgebungen wiederzufinden.
    Etwas kratzte von außen an der Tür. Sie machte sie vorsichtig auf. Einen Spaltbreit nur, aber das reichte aus, um die Katze einzulassen.
    Auch diese Katze hatte sie noch nie gesehen. Sie ließ sich auf die Knie nieder und hielt ihr die Hand hin. Die Katze beschnupperte kurz ihre Finger, rieb den Kopf daran und fing  an zu schnurren. Dann verließ sie das Zimmer wieder, blieb jedoch draußen stehen und stieß lockende Laute aus.
    Ein Blick in den Flur, und die Erinnerung kehrte zurück. Blut an ihren Händen und an ihren Kleidern. Angst. Jette und Merle. Das Bett. Die Wärmflasche. Die Decke.
    »Guten Morgen.« Merle stand am Tisch und lächelte ihr entgegen. »Ausgeschlafen?«
    Mina nickte.
    »Hoffentlich hast du Hunger. Jette holt gerade Brötchen. Es gibt ein Superduperfrühstück. Mit Ei, Orangensaft, Joghurt und Obst. First class. Du kannst auch Toast haben, wenn du willst.«
    Mina zupfte an dem T-Shirt, das sie trug, und schaute Merle fragend an.
    »Kannst du behalten. Nur die Jeans hätt ich gern zurück. Aber lass dir Zeit damit. Deine Sachen hab ich zum Trocknen aufgehängt. Sie sind noch klamm.«
    Mina spielte mit ihren Fingern. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Merle war so großzügig. Sie überlegte sich, ob sie Vertrauen zu ihr haben konnte. Es wäre ein Geschenk, endlich wieder jemandem vertrauen zu können.
    »Setz dich. Was möchtest du trinken?«
    »Tee«, sagte Mina leise.
    »Schwarzen, grünen, roten? Alles da.«
    »Schwarzen.«
    Merle hatte ihr gerade einen Becher hingestellt, als Jette vom Einkaufen zurückkam.
    »Hi, Mina. Gut geschlafen?«
    Mina nickte wieder.
    Jette schüttete die Brötchen in einen Brotkorb. Sie hatte schöne Hände, lang und schmal und nicht mit Blut beschmiert. »Alles in Ordnung mit dir?«
    Dieses blöde Zittern! Nie kriegte sie es in den Griff! Sie  zog die Hände vom Tisch. Zwang sich zu einem Lächeln. Sie musste dieses Frühstück überstehen und dann versuchen, unbemerkt aus der Wohnung zu kommen.
    Die Mädchen waren so lieb zu ihr. Wenn sie länger bei ihnen bliebe, würde sie auf einmal noch Gefühle für sie entwickeln. Und das war das Letzte, was sie im Augenblick brauchen konnte.
     
    Tilo versuchte, sich zu konzentrieren. Die Patientin machte eine schwierige Phase durch. Er konnte es sich nicht leisten, nur halbherzig zuzuhören. Wie schnell verpasste er etwas Wichtiges, das für die Therapie wesentlich war.
    »Ich kann mich zu nichts aufraffen«, klagte sie. »Ich sitze in der Küche, und wenn ich auf die Uhr schaue, sind auf einmal drei Stunden vergangen.«
    Sie litt unter manischen Depressionen, die kontinuierlich stärker wurden. Aber sie weigerte sich, eine Klinik aufzusuchen, obwohl er ihr immer wieder dazu riet.
    Erneut schweiften seine Gedanken ab. War Mina etwas zugestoßen? Warum war sie, die ihre Verabredungen stets so zuverlässig einhielt, gestern nicht erschienen?
    Er sorgte sich ernsthaft um sie. Hatte sie ihre Absicht wahr gemacht, ihre Eltern zu verlassen? Hatte ihr Vater versucht, sie daran zu hindern? Hatte es eine Auseinandersetzung gegeben?
    »Ich habe das Gefühl, ständig zu versagen«, nahm er die Stimme der Patientin wahr. »Meiner Familie gegenüber, der Welt gegenüber und vor allem mir selbst gegenüber.«
    Mach dir nichts vor, dachte Tilo. Die Welt interessiert sich nicht für dich. Und nicht vorhandene Erwartungen kann man nicht enttäuschen. Er rückte sich auf seinem Stuhl zurecht und tadelte sich selbst. Wie zynisch er war. Das hatte seine  Patientin nicht verdient. Keiner seiner Patienten hatte das verdient.
    Soweit er wusste, hatte Mina noch keine neue Bleibe. Er hatte angeboten, ihr Kontakte zu Leuten zu verschaffen, die ihr bei der Suche helfen konnten, doch dazu war es bisher nicht gekommen. Hatte sie ihr Elternhaus etwa trotzdem verlassen? Auf gut Glück? Und war irgendwo untergekrochen? Das konnte gefährlich werden. Wie sehr, das wagte er sich nicht auszumalen. Gefährlich für Mina, aber auch für andere.
    »Im tiefsten Innern bin ich allein«, sagte die Patientin. »Nichts erreicht mich.«
    »Wie war denn Ihr Wochenende?«, fragte Tilo. »Darauf hatten Sie sich doch so sehr gefreut.«
    Während sie von der Geburtstagsfeier erzählte, streiften seine Gedanken wieder umher. Wenn er im Laufe des Tages nichts von Mina hörte, würde er sie anrufen. Sie

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