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Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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lange Sommer hatte das Gras hart und dürr werden lassen. Alles lechzte nach Regen.
    Imkes Blick glitt suchend umher. Es war ihr schon zur Gewohnheit geworden. Niemand wusste, was der Vogel ihr bedeutete, auch Tilo nicht. Nur sich selbst gegenüber gab sie zu, dass sie das Tier brauchte.
    Weil es das Unglück fernhielt. Von ihr und den Menschen, die sie liebte.
    Beinah wollte sie schon aufgeben und mit ihrem Tee an den Schreibtisch zurückkehren, als sie sein Rufen hörte. Schnell und sicher landete er auf dem Dach der Scheune, klappte die Flügel zusammen und drehte ihr das Gesicht zu.
    Der Bussard.
    Er kam nie näher als fünfzig Meter an sie heran. Aber sie spürte, dass er sie beobachtete. Und sie wusste, dass nichts wirklich Schlimmes geschehen konnte, solange er in der Nähe war.
    Wieder am Schreibtisch, trank sie den Tee und spürte, wie seine Wärme sich in ihr ausbreitete. Ein Gedanke hing in der Luft, doch sie bekam ihn nicht zu fassen. Aus Erfahrung wusste sie, dass eine Schreibhemmung sich zu einer Blockade ausweiten konnte, wenn sie ihr nicht auswich. Also schaltete sie den Computer aus und verließ ihr Arbeitszimmer.
    Im Wintergarten holte sie die Tageszeitung wieder aus dem Korb hervor. Sie las den kurzen Artikel über den Mord ein zweites Mal und ließ das Foto der alten Kleiderfabrik auf sich wirken. Manche ihrer Romane waren von Geschichten angeregt worden, die sie irgendwo aufgeschnappt hatte, manche von Fernseh- oder Zeitungsberichten. Sie witterte einen guten Stoff sofort.
    Das hier war so ein Stoff. Es gab einen Mord. Ein düsteres Haus. Ein psychisch gestörtes Mädchen. Und der Tote war nicht irgendwer. Er war das Oberhaupt eines dubiosen religiösen Zirkels und noch dazu der Vater des Mädchens.
    Imke kehrte voller Elan an den Schreibtisch zurück. Sie wollte die Arbeit an ihrem Manuskript nicht unterbrechen, aber es konnte andererseits nichts schaden, schon mal ein paar Notizen für das nächste Projekt festzuhalten.
    Wenig später hatte sie ihre Umgebung vergessen und schaffte es kaum, so schnell zu schreiben, wie die Gedanken auf sie einstürmten.
     
    »Nein! Will nich! Lass mich!«
    Mina hatte sich im Badezimmer verkrochen. Sie kauerte zwischen Wanne und Duschkabine, die Knie bis ans Kinn gezogen, die Arme schützend über dem Kopf.
    Langsam zog Merle die Hand zurück. Das war nicht Mina, die sich da von ihr wegduckte. Das war ein total verängstigtes Kind. Es sprach auch so. Viel heller als Mina. Und mit einem kleinen Lispeln.
    Merle wusste nicht, was sie davon halten sollte. Vorsichtig setzte sie sich auf den Rand der Badewanne.
    »Wolltest du nicht mit mir zu Tilo fahren?«, fragte sie leise.
    Mina schüttelte heftig den Kopf. Sie wischte sich mit den Fäusten die Augen. Ihre Unterlippe war feucht von Speichel und trotzig vorgeschoben. Ihr Beben verriet, dass Mina gleich anfangen würde zu weinen.
    »Okay«, sagte Merle. »Schon gut. Hab keine Angst.«
    Minas Augen waren groß und kugelrund. Und voller Tränen. Ein Blinzeln und die Tränen rollten über die Wangen, zogen eine nasse Spur bis zum Kinn, wo sie eine Weile zitternd hängen blieben, bis sie zum Hals hinunter verschwanden.
    Was sich hier abspielte, überstieg Merles Horizont. Fassungslos starrte sie Mina an, die sich vor ihren Augen in ein vier- oder fünfjähriges Kind verwandelt hatte.
    »Will nich Auto fahrn«, nuschelte Mina und leckte sich die Tränen aus den Mundwinkeln. Sie zog die Nase hoch und wagte es endlich, Merle anzusehen.
    »Musst du auch nicht.«
    Merle glitt bedächtig vom Rand der Wanne zu Boden. Nun waren ihre Augen auf gleicher Höhe mit Minas. Merle hatte diese Entscheidung ganz instinktiv getroffen. Anscheinend war sie richtig gewesen, denn Mina schniefte noch einmal und hörte dann auf zu weinen.
    »Hab Angst vor Autos.«
    Merle nickte. Sie wünschte, Jette würde zurückkommen. Weil sie irgendwas vergessen hätte. Oder einfach so. Aber Jette konnte natürlich nicht wissen, dass sie hier gebraucht wurde.
    Minas Blick schien ins Leere gerichtet. Sie summte vor sich hin. Ein paar Töne nur, die sie immerzu wiederholte.
    Für einen kurzen Augenblick verfluchte Merle ihr Schicksal, das sie ständig in ausweglose Situationen manövrierte. Sie hatte genug am Hals, da brauchte sie nicht noch dieses Mädchen, das dermaßen durchgeknallt zu sein schien, dass einem angst und bange werden konnte. Doch dann schmolz ihr Widerstand dahin, und sie hatte nur noch einen Wunsch - Mina zu helfen.
    »Schon komisch, dass

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