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Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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Morgenbesprechung ja erst ein paar Stunden vergangen.
    Der massige Körper des Chefs wirkte im Gegenlicht dunkel und verschwommen. Bert konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Der Chef hatte seine Hausaufgaben in psychologischer Gesprächsführung gemacht. Man konnte sein Gesicht kaum erkennen und keine Regung von ihm ablesen.
    »Ich habe mit Doktor Haubrich gesprochen«, sagte Bert. »Die Obduktion hat seine Annahmen bestätigt.«
    »Ein guter Mann.« Der Chef drehte sich ein wenig, um aus dem Fenster schauen zu können. »Und sonst?«
    Bert stand auf, ging zur Pinnwand und heftete Namenszettel an, die er vorbereitet hatte. Dietmar Kronmeyer. Marlene Kronmeyer. Mina Kronmeyer. Ben Bischop. Max Gaspar.
    »Nichts sonst«, sagte er. »Wir stehen ja noch am Anfang.«
    »Dieser Fall wird mächtig Staub aufwirbeln, Melzig.«
    Aha. Daher wehte der Wind. Er hatte Angst vor den Schlagzeilen und ihren Folgen. Angst, bestimmten Leuten auf den Schlips zu treten.
    »Zu diesem religiösen Zirkel gehören nicht nur unbeschriebene Blätter.«
    »Sondern?«
    »Wie man hört, sollen sich die Mitglieder aus allen Gesellschaftsschichten zusammensetzen. Aus allen, Melzig. Bis ganz nach oben.«
    Bis ganz nach oben. Die alte Beschwörungsformel. Sie schaffte es, dem Chef die Farbe aus dem Gesicht zu ziehen und ihn in Sekundenschnelle um Jahre altern zu lassen.
    »Ich möchte über alles informiert werden, Melzig. Über jeden Schritt. Und gehen Sie um Gottes willen diskret vor, Mann!«
    Um Gottes willen. Das passte. Bert beobachtete, wie der Chef sein schief sitzendes Jackett zurechtzog und sich dann die Hände rieb. Auch das passte. Er wusch seine Hände in Unschuld. Hatte seine Befürchtungen hier abgeladen und richtete den Blick gelassen wieder geradeaus.
    »Dann mal froh ans Werk, Melzig!«
    Und schon war er aus der Tür und Bert hörte seine Schritte auf dem Flur leiser werden. Bald war Mittag. Bert sehnte sich danach, das Haus zu verlassen und frische Luft zu atmen. Doch er hatte noch eine Weile hier zu tun. Also riss er zunächst einmal die Fenster auf. Der Blick auf die Straße lenkte ihn ab und ließ ihn vergessen, wie stickig es im Zimmer geworden war.
    Ich war nicht bei der Sache. Immer wieder kehrten meine Gedanken zu Mina zurück und zu der Überraschung, die sie  uns bereitet hatte. Sie war Tilos Patientin. Also war sie nicht zufällig in den Garten meiner Mutter geraten, sondern hatte dort auf Tilo gewartet.
    Aber wieso wusste sie so gut Bescheid über ihn? Tilo bestand grundsätzlich darauf, Beruf und Privatleben strikt voneinander zu trennen. Das war schon fast ein Tick von ihm. Er hütete seine Adresse und seine private Telefonnummer wie seinen Augapfel, erlaubte keinem Patienten, ihn zu Hause aufzusuchen.
    Oder hatte er mit Mina … Nein, das traute ich ihm nicht zu. Es war nicht zu übersehen, dass er bis über beide Ohren in meine Mutter verliebt war. Seine Stimme veränderte sich in ihrer Gegenwart, wurde zärtlich und weich und sein Blick folgte ihr überallhin. Insgeheim hatte ich mich schon manchmal darüber lustig gemacht, dass er nur für sie Augen hatte. Aber im Grunde fand ich das überwältigend romantisch und absolut beneidenswert.
    Es juckte mich in den Fingern, Merle anzurufen. Bestimmt hatte sie Mina schon zu Tilo in die Praxis gebracht.
    »Wollen Sie meine Fotos sehen?«
    Frau Sternberg hielt das dicke Album fest an die Brust gepresst. Als wäre es das Kostbarste auf der Welt und als befürchtete sie, jemand könnte es ihr entreißen.
    Ich hatte die Tische fürs Mittagessen eingedeckt und eine halbe Stunde Zeit übrig. »Gern«, sagte ich und ließ mich von Frau Sternberg in eine Nische im Aufenthaltsraum ziehen, wo sie sich stöhnend auf einem altmodischen Sofa niederließ.
    Sie klopfte auf den Platz neben sich. »Kommen Sie! Setzen Sie sich ganz nah an mich heran. Damit Sie auch alles erkennen können.«
    Die Fotos waren abgegriffen und vergilbt. Wie die Fotografien, die man auf Flohmärkten kaufen kann. Frau Sternberg  zeigte mir ihre Eltern (freudlos in die Kamera blickende Menschen mit strenger Frisur und steifem Kragen), sie zeigte mir ein Babyfoto von sich selbst (neben einem Teddy, der größer war als sie), ihr Hochzeitsfoto, ihre Kinder (drei oder vier, sie wusste es nicht mehr), den Bungalow, in dem sie vor einiger Zeit noch gelebt hatte, den schönen Garten und zum Schluss das Ferienhaus am Meer.
    »Da bin ich immer gern gewesen.« Sie fuhr zärtlich mit dem Daumen über das Dach und die

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