Der Schiffsjunge der Santa Maria
ab.
»Ihr Halunken«, murmelte er, als er Luis’ Platz einnahm. Luis meinte, die Andeutung eines Lächelns unter Polifemos dichtem Bart bemerkt zu haben. Sein erstes Lächeln auf dieser Reise.
Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug. Sie entdeckten kleine und große Inseln, lernten freundliche Eingeborene kennen, von denen niemand etwas von Zipangu oder Indien gehört hatte. Und auch Gold und andere Reichtümer fanden sie nicht. Kolumbus’ Laune wurde immer schlechter. Seine Enttäuschung wuchs. Sie wurde noch dadurch vergrößert, dass die Pinta mit ihrem Kapitän Pinzón sich eines Tages bei diesigem Wetter auf und davon machte. Ohne Ankündigung, ohne Absprache mit dem Admiral. Wollte Pinzón die Heimreise antreten? Alleine über den großen Ozean? Oder wollte er auf eigene Faust auf Entdeckungsreise gehen, Indien finden und den Ruhm für sich einstreichen? Kolumbus wusste es nicht und schimpfte tagelang wie eine andalusische Elster.
Das Jahr neigte sich dem Ende entgegen. Es war die Nacht vor dem Weihnachtsfest. Sie fuhren ander Nordküste einer Insel entlang, die von ihren Bewohnern Haiti genannt wurde. Dabei hielten sie sich dicht am Ufer, weil nur hier günstige Winde aus dem Westen wehten, und zwar besonders in der Nacht. Kolumbus hatte darum befohlen, dass die Schiffe nur nachts fahren sollten, um die Westwinde auszunutzen. Das war nicht ungefährlich, denn in Landnähe gab es unzählige Riffe und Felsen.
Der Himmel war sternenklar. Ein Hauch von Wind trieb die Santa Maria gemächlich in Richtung Osten, dicht an der Küste Haitis vorbei. Gegen elf Uhr drehte Luis die Ampolleta um. Die Männer waren müde. Sie hatten in den letzten Tagen wegen der gefährlichen Route nur wenig Schlaf gefunden. Auch Luis konnte die Augen nicht mehr offen halten. Er nickte neben der Sanduhr ein.
Kolumbus zog sich in seine Kajüte zurück. Als die Matrosen das sahen, legten sie sich irgendwo auf dem Schiff nieder, um wenigstens kurz die Augen zu schließen. Alle Männer legten sich schlafen, auch die, die zur Wache eingeteilt waren. Was sollte schon passieren? Der Steuermann würde das Schiff schon sicher lenken. Und das Meer war glatt wie ein Teller. Doch auch Peralonso fielen schon im Stehen die Augen zu. Mit einem Fußtritt weckte er Luis.
»Ich leg mich aufs Ohr«, murmelte er, als Luis erschrocken auffuhr. »Für eine halbe Stunde. Halt du mal eben die Ruderstange.«
»Das kannst du nicht machen!«, rief Luis ihm hinterher, als Peralonso seinen Platz verließ. »Ein Schiffsjunge darf die Ruderstange nicht halten!«
Doch Peralonso reagierte nicht. »Du musst die Stange einfach nur so halten, wie sie jetzt ist.« Er gähnte. »Ich bin gleich wieder da.« Und schon war er verschwunden.
Luis rutschte das Herz in die Hose. Er nahm die Ruderstange fest in beide Hände und betete zum Heiligen Nikolaus, dass er ihn und das Schiff sicher geleiten möge.
Doch gegen Mitternacht passierte es, kaum dreihundert Meter von der Küste entfernt. Dicht unter der Wasseroberfläche befand sich eine Felsenplattform mit Auskragungen, so gezackt und so scharf wie Sägezähne. Eine kleine Böe trieb die Santa Maria direkt auf die Felsen. Plötzlich ging ein Ruck durch das Schiff. Es knackte und knirschte. Luis fuhr es durch Mark und Bein. Er hielt die Ruderstange fest umklammert und begann laut zu schreien.
Im nächsten Moment wimmelte das Schiff von aufgeschreckten Seeleuten. Die Stille der Nachtwurde von ihren Schreien und Flüchen zerrissen. Auch Kolumbus kam aus seiner Kajüte gestürzt und versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen. Im Sternenlicht war klar zu erkennen, dass die Santa Maria mit dem Bug auf ein Riff gelaufen und leckgeschlagen war. Wasser drang ein, das Admiralsschiff war tödlich verwundet.
Luis war aus der Ruderkammer gerannt und stand neben Jacomo und Ramon an der Bordwand.
»Ist das Schiff noch zu retten?«, fragte er unsicher, obwohl er die Antwort eigentlich wusste.
Jacomo schüttelte den Kopf. »Isse kaputt. Wir mussen aufgeben.«
»Und dann?«, fragte Ramon mit bebender Stimme.
»Alle Mann auf Niña. Und dann wir sehe weiter.«
»Das wird aber ziemlich eng«, sagte Luis. Die Niña hatte inzwischen etwa eine halbe Seemeile vor ihnen beigedreht. Offenbar hatten die Männer dort den Lärm bemerkt, der von der Santa Maria kam.
Jacomo wollte gerade etwas erwidern, als sie den Befehl des Admirals hörten: »Lasst die Boote zu Wasser! Wir setzen zur Niña über. Morgen früh retten wir, was noch
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