Der schlafende Engel
gezwungen.«
April lachte fassungslos. »Du willst mir also erzählen, ihr wärt eine unterdrückte Minderheit? Das ist doch Schwachsinn, Grandpa. Dieses Monster hätte in diesem Moment kein Blut trinken müssen, sondern hat es aus reiner Lust am Schmerz und an der Angst ihres Opfers getan. Und das ist deine Vorstellung von einer strahlenden Zukunft?«
Sie sah, dass Thomas’ Blick erneut über die Gesichter der Anwesenden schweifte.
»Nein, das ist meine Vorstellung von einer dunklen Vergangenheit, von der wir uns distanzieren und die wir in den Griff bekommen müssen. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Bild der Vampire als leichenfressende Dämonen unsere Pläne zunichte macht.«
Die Anwesenden quittierten seine Worte mit Applaus.
April lauschte fassungslos.
»Das Ganze ist kein beschissenes PR -Problem«, rief sie ihnen zu. »Diese Kreaturen werden unsere Welt zerstören.«
Die Anwesenden lächelten nachsichtig. Schließlich rutschte Dr. Tame auf seinem Stuhl vor.
»Es wird keinen Krieg geben, April, keine Revolution und keine Armee, die nur darauf wartet, die Palasttore zu stürmen. Sondern eine friedliche Allianz gleich denkender Individuen, die lediglich das Ziel verfolgt, dass unsere Nation von den jeweiligen Gaben profitiert.«
»Nein!«, schrie April und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Kapierten sie denn nicht? »Mit den Vampiren kann man nicht verhandeln. Sie werden Sie alle wie Vieh abschlachten.«
Thomas stand auf und hob die Hände.
»Ich denke, dies ist der richtige Zeitpunkt für eine kleine Pause«, sagte er. »In der Mensa warten ein paar Erfrischungen. Wir treffen uns« – er blickte auf die Uhr über dem Podium – »sagen wir, um acht?«
Die Atmosphäre war höflich, nett und gesittet, als hätte sich eine Gruppe Verkaufsleiter zu einem Teambuilding-Seminar eingefunden und nicht die mächtigsten Meinungsmacher eines Landes, die die Zerstörung ihrer gesamten Kultur und Lebensweise in die Wege leiteten. Dr. Tame begleitete die Anwesenden durch die Doppeltüren hinaus und schloss sie hinter ihnen, während April und ihr Großvater allein zurückblieben. April erhob sich ebenfalls.
»Bitte, April, bleib.«
»Ich muss Gabriel finden«, sagte sie. »Er braucht mich.«
Doch Thomas nahm ihren Arm. » Ich brauche dich, meine Kleine.« Etwas an seinem Tonfall ließ April innehalten.
»Was meinst du damit, du brauchst mich?«
»Ich sterbe, April«, sagte er.
Trotz ihrer Wut zog sich Aprils Herz zusammen. In diesem Moment hatte sie nicht den König der Vampire vor sich, sondern ihren Grandpa, jenen Mann, der sie auf den Knien geschaukelt hatte, ihren Fels in der Brandung, den einzigen Menschen neben ihrem Vater, auf den sie immer hatte zählen können.
»Warum? Was ist los, Grandpa?«
Thomas lächelte traurig.
»Ich bin alt, mein Schatz, und erschöpft. Auch geborene Vampire altern, und ich bin sehr, sehr alt. Ich spüre es in meinen Knochen. Hab keine Angst. Mir bleibt noch genug Zeit, um zu tun, was ich in die Wege geleitet habe, aber dafür brauche ich deine Hilfe.«
Am liebsten hätte April die Arme um Thomas geworfen und ihn an sich gedrückt, sich von ihm in den Armen halten lassen, sicher und wohlbehalten. Doch ihre Wut, ihre Verwirrung waren noch zu groß.
»Wieso hast du mir nichts davon gesagt, Grandpa?«
»Deine Mutter. Sie hat gesagt, ich soll warten. Ich wollte dir alles über unsere Familie und unser Erbe erzählen – ich habe es auch versucht –, aber Silvia wollte, dass du als ganz normales Kind aufwächst.«
»Aber ich bin – ich war – ein normales Kind. Nur weil du …«, stammelte sie und machte eine hilflose Geste.
»Weil ich ein Vampir bin? Ja, April, ich bin ein Vampir. Genauso wie deine Mutter. Und genauso wie du . Schon seit Jahrhunderten gehören wir zur königlichen Familie.«
»Also ist alles, was du über den Schwarzen Prinzen erzählt hast, wahr? Ich dachte, du sagst das nur, damit ich glaube, unsere Familie sei wichtiger, als sie es in Wahrheit ist.«
Thomas lachte leise. »Nein, du bist eine echte Prinzessin«, erklärte er voller Stolz. »Manche glauben sogar, wir hätten schon vor Urzeiten regiert, noch vor den Mayas und den Azteken.« Angewidert verzog er das Gesicht. »Bevor sie sich wie Ratten in Europa ausgebreitet haben. Und jetzt ist es an der Zeit, zurückzukehren und unsere rechtmäßige Stellung zu beanspruchen. Als Könige und Königinnen.«
April schüttelte den Kopf.
»Du klingst wie ein größenwahnsinniger
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