Der schlafende Engel
Gestalt vor ihr an. Gabriel war auf eine Art Zahnarztstuhl gefesselt. Aus einem Infusionsständer sickerte eine Flüssigkeit durch einen Schlauch in seinen Arm, und an seinen Schläfen waren Drähte befestigt. Er starrte auf einen Flachbildschirmfernseher, auf dem ein Homevideo von einem Hundekampf lief: zwei Pitpulls, die sich gegenseitig blutig bissen. Doch nicht die Hunde, sondern Gabriels Anblick ließ sie erstarren. Seine Miene war ausdruckslos, ohne jedes Leben, sämtlicher Spuren einer Persönlichkeit beraubt. Seine Augen waren zwar geöffnet, doch ansonsten zeigte er keinerlei Lebenszeichen. Er sah wie eine Wachsfigur von Madame Tussauds aus.
»Gabe«, sagte sie leise und trat näher. »Ich bin’s, April. Kannst du mich hören?«
Sie streckte die Hand nach ihm aus. Unvermittelt schnellte seine Hand vor und schloss sich um ihr Handgelenk.
»Gabe, bitte.« Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu winden. »Du tust mir weh.«
Er wandte sich ihr zu. Erschrocken wich April zurück. Seine Augen glühten, und er hatte die Zähne gebleckt wie die beiden Hunde im Fernsehen. Es war dasselbe Gesicht wie an jenem Morgen auf dem Primrose Hill, als er den Drachenhauch getrunken und sich in einen Vampir zurückverwandelt hatte, nur diesmal verriet nichts, dass er sie wiedererkannte. Stattdessen zerrte die Kreatur an ihren Fesseln und wollte sich befreien, damit sie April töten konnte.
In diesem Moment ertönte ein lautes Krachen. Sekunden später waren überall Leute, Hände packten sie und zerrten sie zurück, und eine schwarz gekleidete Gestalt beugte sich mit einer Spritze über Gabriel.
»Nein!«, schrie sie. »Lasst ihn in Ruhe!«
»Das wäre wohl keine gute Idee, April.«
Der Mann, der sie festgehalten hatte, riss sie zu sich herum. Charles Tame stand im Türrahmen.
»Bringt sie her«, befahl er mit einem bösartigen Lächeln. »Ich glaube, es gibt da jemanden, der gern ein paar Worte mit ihr wechseln würde.«
Wieder wurde Aprils Arm nach hinten gerissen, dann führte man sie aus dem Laborraum und den Korridor hinunter. Am Fuß der Treppe drehte sie sich noch einmal um und sah, dass Gabriel von zwei Männern weggeschleppt wurde. Sein Kopf hing schlaff herab, und seine Füße schleiften auf dem Boden.
»Was habt ihr mit ihm gemacht?«, schrie sie. »Wenn ihr ihm wehtut, bringe ich euch alle um!«
Tame baute sich vor ihr auf und packte ihr Kinn. »Nein, April, das wirst du nicht tun.« Seine Finger gruben sich schmerzhaft in ihre Wangen. »Stattdessen wirst du genau das tun, was man dir sagt, hast du verstanden?«
»Wissen Sie überhaupt, wen Sie vor sich haben?«, fauchte sie. »Wissen Sie, wer der König ist?«
Tame lachte. »Natürlich weiß ich es. Schon vom ersten Tag an, als ich nach Ravenwood gekommen bin. Wir haben gewissermaßen Seite an Seite gearbeitet.« Er sah zu Gabriel hinüber.
» Sie haben ihm das angetan? Was haben Sie mit seinem Kopf angestellt?«
»Das ist mein Spezialgebiet, April. Das weißt du doch. Der menschliche Verstand ist ein verblüffend einfacher Mechanismus, wenn man weiß, wie man ihn umprogrammiert.«
»Was haben Sie mit ihm gemacht?«, schrie April.
Tame trat vor und schlug ihr so heftig ins Gesicht, dass ihr Kopf nach hinten gerissen wurde.
»Der heutige Abend ist zu wichtig. Wir werden nicht zulassen, dass du mit deinem hysterischen Teenager-Trara unsere Pläne zunichte machst. Entweder du kooperierst, oder dein Freund hat gleich einen sehr hässlichen und leider tödlichen Unfall. Kapiert?«
Tames Augen funkelten im Schein der Deckenbeleuchtung, und sein Mund war zu einem irren Grinsen verzogen. Oh Gott, er hat den Verstand verloren , dachte sie.
»Ob du kapiert hast?«, wiederholte er.
April nickte. Wollen wir doch mal sehen, wer hier einen hässlichen Unfall hat , dachte sie. Offenbar spiegelte sich ihr Trotz auf ihren Zügen wider, denn Tame schüttelte langsam den Kopf.
»Oh nein, bilde dir bloß nicht ein, dass du eine Sonderbehandlung bekommst«, sagte er. »Der König hat von Anfang an klipp und klar gesagt, wie der Hase läuft: Entweder du siehst ein, dass wir recht haben, und schlägst dich auf unsere Seite, oder aber du kannst dir mit deinem reizenden Gabriel ein kaltes Grab teilen.«
Noch immer grinsend, sah er sie abwartend an.
Schließlich nickte sie. »Gut, dann ist es jetzt wohl Zeit für die Wiedervereinigung.«
Die Türen zur Aula wurden geöffnet. April hatte eine Party erwartet, vielleicht in der Art wie der Empfang im Crichton Club,
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