Der schlafende Engel
stattdessen stand ein langer Holztisch mit etwa einem Dutzend hoher Stühle in der Mitte des Raums, auf denen ernst dreinblickende Männer und Frauen saßen. Ihr blieb keine Zeit, nach einem bekannten Gesicht Ausschau zu halten, da Tame sie unsanft vorwärts stieß, sodass sie vor dem Tisch auf die Knie fiel.
»Ladies and Gentlemen«, erklärte Dr. Tame. »Darf ich Ihnen Ravenwoods Schulsprecherin, Miss April Dunne, vorstellen? Wie es scheint, hat eine Rettungsmission sie hierher geführt. Außerdem muss ich davon ausgehen, dass sie unsere kleine Zusammenkunft stören wollte.«
April hatte erwartet, dass Dr. Tames Ankündigung einen Aufschrei oder zumindest tuschelnde Diskussionen auslösen würde, doch stattdessen herrschte Stille im Raum, als warteten die Anwesenden darauf, dass jemand ihnen ein Signal gab.
»Heben Sie sie auf«, sagte eine tiefe Stimme. April fühlte eine Hand an ihrem Rücken, und als sie sich aufrappelte, krampfte sich ihr Magen zusammen.
»Hallo, Prinzessin.«
April hob den Kopf und sah in das Gesicht ihres Großvaters.
»Komm, April«, sagte Thomas. Er legte ihr behutsam einen Finger unters Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Du wirst neben mir sitzen. Da wo du eigentlich die ganze Zeit hättest sein sollen.«
April konnte ihn nur mit offenem Mund anstarren. All die Monate, in denen sie verzweifelt nach Hinweisen gesucht hatte, war die Wahrheit direkt vor ihrer Nase gewesen. Ihre Mutter, Grandma, Luke und alle anderen Familienmitglieder waren auch Vampire. Und Grandpa Thomas, ihr Fels in der Brandung, ihr Beschützer, war der gefährlichste von allen.
»Du bist der König«, sagte sie leise. »Der Vampirkönig.« Sie musste es aussprechen, musste die Worte aus seinem Mund hören.
Thomas lächelte nur. Doch es war kein höhnisches Grinsen, sondern das liebevolle Lächeln eines hingebungsvollen Großvaters.
»Ja, April, ich bin der König. Nun folge mir.«
Er führte sie zu einem Stuhl am Kopfende des Tisches. Entsetzt registrierte April, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren. Erwarteten sie von ihr, dass sie etwas sagte? Doch in diesem Moment ergriff Grandpa Thomas abermals das Wort.
»Dies ist, wie alle mittlerweile mitbekommen haben, meine Enkelin April.«
Zu ihrer Verblüffung und Bestürzung applaudierten die Anwesenden. Und sie lächelten ihr zu!
»Dies ist zwar eine kleine Abweichung vom ursprünglichen Plan, aber offensichtlich hat sie uns das Schicksal geschickt. April ist meine Erbin, das letzte Mitglied in diesem Zweig der Familie.«
Seine Worte rissen April aus ihrer Erstarrung.
»Was? Nein!«, rief sie. »Grandpa, ich kann nicht. Ich will nicht …«
Er legte seine Pranke auf ihre Hand und beugte sich vor. »Du brauchst nichts zu überstürzen, Prinzessin. Ich weiß, dass all das seltsam für dich sein muss, aber das hier ist die Zukunft. Unsere Zukunft.«
Voller Stolz ließ Thomas den Blick über die Anwesenden am Tisch schweifen. Erst jetzt entdeckte April David Harper, DCI Johnston und einige andere bekannte Gesichter – teils aus den Fernsehnachrichten oder vom Empfang im Crichton Club. Sie alle sahen sie erwartungsvoll an.
»Ist das der Beirat?«, fragte sie.
Höfliches Lachen wurde laut.
»Nein, Schatz. Das ist der Rat des Lichts.«
»Licht? Ich dachte, hier geht es um die Dunkelheit.«
»Wir sind hier nicht in einem Horrorfilm, April«, sagte Thomas. »All diese Leute sind genauso wie du – sie sind menschlich, keine Vampire. Aber sie sind eben zukunftsorientiert. Es sind Menschen, die wollen, dass sich die Welt verändert. Dass endlich alle begreifen, dass Vampire unter ihnen leben und wir gemeinsam dieses Land mit ihnen regieren wollen, das ist ihr großes Ziel.«
»Nein! Ich bin nicht wie diese Leute.«
Sie schob ihren Stuhl zurück, als wollte sie sich allein durch diese Geste von ihnen distanzieren.
»Ist dir denn nicht klar, was du da tust?«, schrie sie. »Begreifst du nicht, mit wem du dich eingelassen hast?«
»April, bitte.«
»Nein, Grandpa. Ich habe heute Abend miterlebt, wozu ›deine Leute‹ fähig sind. Ein Monster hat ein unschuldiges Mädchen angegriffen und ihr Blut getrunken.«
»Wir sind keine Monster, April.« Thomas’ Stimme war ganz ruhig, doch das Blitzen in seinen Augen verriet, wie wütend er war. »Vampire haben einfach nur eine andere physiologische Grundstruktur. Wir brauchen Plasma, und nur weil die Gesellschaft unsere Andersartigkeit nicht akzeptieren kann, sind wir zu derart drastischen Methoden
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