Der schlafende Engel
die Angelegenheit damit offenbar erledigt war, wandte sich ab und verließ die Toilette.
»Aber wollen Sie denn gar nichts unternehmen, Sir?«, fragte April, die ihm folgte. »Sie haben doch eindeutig etwas angestellt.«
»Ach, April, Jungs sind nun mal Jungs, das wissen wir doch«, meinte er und winkte ab. »Der junge Calvin ist sehr beliebt bei den anderen, ganz zu schweigen von seinen sportlichen Talenten. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass sich eine Gardinenpredigt positiv auf seine Motivation auswirken würde. Nein, die Schüler sollen wissen, dass ich sie in allem unterstütze, solange sie nur die Leistung bringen, die ich von ihnen verlange. Leistung steht für mich an oberster Stelle.«
Sie standen vor einem leeren Klassenzimmer. Tame schob sie hinein.
»Wobei wir beim Thema wären«, sagte er und schloss die Tür. »Ich will, dass du als Schulsprecherin ein Zeichen setzt.«
»Ein Zeichen setzt?«, wiederholte April und blickte beklommen zur Tür. Sich ganz allein mit Tame in einem Zimmer aufzuhalten, war ausgesprochen unangenehm – vor allem jetzt, nachdem sie erfahren hatte, dass er offenbar nicht vorhatte, etwas gegen Übergriffe durch die Vampire auf dem Schulgelände zu unternehmen. Sie konnte nur spekulieren, was er sonst noch als im Rahmen des Akzeptablen betrachtete.
»Ganz genau. Ein Zeichen«, sagte er. »Du musst jemand sein, zu dem die Schüler aufblicken können, dem sie nacheifern wollen. Natürlich gibt es bessere Schüler als dich, schließlich ist Ravenwood eine der renommiertesten Schulen des Landes, deswegen brauchst du dir keinerlei Hoffnungen zu machen, mit ihnen mithalten zu können.«
Herzlichen Dank für die ermutigenden Worte , dachte April.
»Nein, ich möchte, dass du eine Führungspersönlichkeit bist. Jemand, der das Gute an Ravenwood verkörpert. Eine Art Aushängeschild, wenn du so willst.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich unbedingt die Richtige …«
»Unsinn. Mit einer neuen Frisur und einer kleinen Shoppingberatung könntest du durchaus etwas hermachen. Aber das ist noch nicht alles. Ich will sehen, dass unsere neue Schulsprecherin eine Lanze für die Schule bricht. Deshalb habe ich ein kleines Interview mit der hiesigen Tageszeitung arrangiert.«
»Sie wollen, dass ich mit der Presse rede?«
»Aber natürlich«, antwortete er und blickte sie aus seinen seltsam bleichen Augen durchdringend an. »Nichts Großes, nur ein paar kurze schriftliche Fragen. Wir müssen kommunizieren, was für wunderbare neue Lehrmethoden wir hier in Ravenwood praktizieren. Das sollte doch kein Problem sein, oder?«
»Nein, ich … ich weiß nur nicht so recht, was ich sagen soll.«
»Darüber brauchst du dir dein hübsches Köpfchen nicht zu zerbrechen. Ich erledige das für dich. Nach dem Motto Ravenwood ist die beste Schule der Welt … blablabla … die mich in allem unterstützt, was ich tue … das Übliche eben. Dich brauchen wir nur für die Fotos.«
Er beugte sich vor und drückte eine Taste auf der Gegensprechanlage.
»Würden Sie ihn bitte reinschicken, Mrs Bagly?«
April fiel die Kinnlade herunter.
»Wollen Sie die Fotos etwa jetzt sofort machen?«
Oh Gott , dachte April, während sie zusah, wie der Fotograf hereinkam und seine Utensilien auspackte , Caro hat völlig recht. Der Mann ist wirklich gut . Indem er April in aller Öffentlichkeit beteuern ließ, wie glücklich sie in Ravenwood war, nahm er Schlagzeilen wie »Lehrerin kommt unter geheimnisvollen Umständen ums Leben« ihre Brisanz.
Zum Glück schien es der Fotograf eilig zu haben und machte lediglich ein paar Aufnahmen von ihr hinter dem Schreibtisch, wo sie so tun musste, als würde sie schreiben. Dann packte er zusammen und verschwand so plötzlich, wie er aufgetaucht war.
»Kann ich jetzt gehen?«, fragte April. Sie hatte nur einen einzigen Wunsch: so schnell wie möglich aus diesem Büro zu verschwinden.
Tame schürzte die Lippen.
»Gleich. Vorher muss ich dich noch um einen kleinen Gefallen bitten.«
Oh je, dachte April. Das verhieß nichts Gutes.
»Ich möchte, dass du im Umgang mit den anderen Schülern die Augen offen hältst. Achte einfach auf diejenigen, die … nun, wie soll ich es ausdrücken? … die ein Problem für uns darstellen könnten. Auf solche, die Schwierigkeiten mit ihren Noten haben oder nicht so recht zu den anderen Schülern passen. Vielleicht brauchen sie ja Hilfe. Deshalb möchte ich, dass du mir ihre Namen nennst.«
Unfassbar! Tame verlangte allen Ernstes von ihr, dass
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