Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der schlafende Engel

Der schlafende Engel

Titel: Der schlafende Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mia James
Vom Netzwerk:
gehabt hatte oder irgendetwas vor sich ging, wovon die Blutsauger nichts wussten. Und Ungewissheit mochten Vampire nicht, so viel wusste sie. Sie würden sie in nächster Zeit sehr, sehr genau beobachten, jeden einzelnen ihrer Schritte.
    Schließlich erreichte sie das schwarze schmiedeeiserne Nordtor des Friedhofs und blieb stehen. Unwillkürlich kam ihr jene Nacht wieder in den Sinn, als sie das erste Mal hier gewesen war – sie dachte an Isabelle, Gabriel und dieses unsichtbare Geschöpf mit den tiefdunklen Augen. Nun, da vereinzelt Sonnenstrahlen durch das dichte Blätterdach drangen und Insekten und winzige Staubkörner in den Lichtkegeln tanzten, wirkte alles so friedlich. Welche Finsternis mochte sich über diesen friedlichen Ort gesenkt haben? War es etwas wirklich Böses? Gab es das überhaupt, etwas zutiefst Böses? In diesem Moment registrierte sie eine Bewegung und erstarrte. Am Ende des Wegs, höchstens zweihundert Meter entfernt, stand ein Mann. Sie erkannte ihn auf Anhieb: Es war der Friedhofsaufseher, den sie bei ihrer Besuchertour kennengelernt hatte.
    »Hey«, rief sie. »Hier drüben! Ich bin’s, April Dunne!«
    Der Mann drehte sich um, und für den Bruchteil einer Sekunden trafen sich ihre Blicke. Seit ihrer Begegnung waren so viele seltsame Dinge passiert, dass sie beinahe glaubte, der Mann sei lediglich ein Produkt ihrer Fantasie, eine Art Gespenst, das ihr Verstand in seiner unendlichen Trauer heraufbeschworen hatte.
    »Bitte!«, rief sie. »Ich muss unbedingt mit Ihnen reden.«
    Er musste sie gehört haben – er hatte sie bemerkt, daran gab es keinen Zweifel –, doch er wandte sich um und verschwand zwischen den Bäumen.
    »Nein, bitte kommen Sie zurück!«, rief sie abermals. » NEIN ! Bitte gehen Sie nicht weg.«
    Einen kurzen Moment überlegte sie, einfach über das Tor zu klettern, allerdings würde sie es wahrscheinlich nicht schaffen, in ihrer Schuluniform die Eisenspitzen zu überwinden.
    »Mist!« Sie rannte an der hohen Ziegelmauer entlang den Hügel hinab. Vielleicht war der Grabpfleger ja den Pfad hinuntergegangen, und sie konnte ihm den Weg abschneiden. Schließlich bog sie um die Ecke und blieb vor dem Friedhofseingang stehen. Mit beiden Händen packte sie die schwarzen Eisenstreben und zwängte ihr Gesicht dazwischen, in der Hoffnung, ihn irgendwo zu erspähen. Wo war er? Wenn er den Hügel hinuntergegangen war, musste er irgendwann zwangsläufig auf dem Vorplatz auftauchen.
    » BITTE !«, rief sie verzweifelt. Ihr war völlig klar, dass sie wie eine Irre wirken musste, aber aus irgendeinem Grund war sie davon überzeugt, dass dieser Mann ihr etwas über das Verschwinden ihres Vaters sagen konnte. »Ich kümmere mich um die Gräber.« Hatte er nicht genau das an jenem Morgen der Besichtigungstour gesagt? Sie machte kehrt, rannte zum Haupttor und rüttelte daran. Verdammt , dachte sie und klopfte ans Fenster der Friedhofsverwaltung.
    »Miss Leicester!«, rief sie. »Hier ist April. April Dunne! Können Sie mich reinlassen?«
    Augenblicke später erschien das Gesicht der alten Frau hinter dem Fenster, allerdings war nichts von dem Mitgefühl auf ihren Zügen zu erkennen wie bei ihrer letzten Begegnung. Stattdessen hatte sie die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst, als ärgere sie sich über die Störung.
    »Was willst du?«, fragte sie, schloss das Tor auf, stellte sich jedoch dazwischen, sodass April nicht eintreten konnte.
    »Bitte lassen Sie mich rein, Miss Leicester, es ist wichtig.«
    Die alte Frau schürzte die Lippen.
    »Ich bin nicht sicher, ob das angemessen ist, April«, sagte sie.
    April schüttelte verwirrt den Kopf.
    »Wie meinen Sie das?«
    »Der Zugang zum Friedhof ist ausschließlich Angehörigen der hier Bestatteten gestattet.«
    »Aber ich bin doch eine Angehörige«, erwiderte April ungeduldig.
    »Nein, April, das stimmt nicht. Ich möchte ja nicht taktlos sein, aber dein Vater liegt nicht länger hier begraben. Damit bist du keine offizielle Angehörige mehr, oder?«
    April starrte sie entgeistert an. »Sie wollen mich doch hochnehmen, oder?«
    »Ich fürchte, nicht. In unserer Hausordnung steht klipp und klar …«
    »Dafür habe ich jetzt keine Zeit …«, blaffte April. »Ich will ja gar nicht zu Daddys Grab, sondern nur hinein und mit Ihrem Grabpfleger reden.«
    Miss Leicester kniff die Augen zusammen.
    »Grabpfleger? Welcher Grabpfleger?«
    »Ich weiß nicht, wie er heißt. Ich bin ihm nur einmal begegnet und habe ihn gerade am Nordtor

Weitere Kostenlose Bücher