Der schlafende Engel
sie für ihn rekrutierte. Er wollte, dass sie sämtliche Schüler aussortierte, die nicht erwünscht waren – solche wie Caro und wie sie selbst. Und vermutlich sollte sie ihm auch die Namen all jener nennen, die möglicherweise zugänglicher für seine Ideologien waren als andere.
»Habe ich mich klar ausgedrückt?«, hakte Tame nach.
»Ja, aber ich verstehe nicht ganz …«
»Oh doch, das tust du, April«, sagte er und stand auf. »Du verstehst ganz genau, was ich von dir will. Wir sollten nicht deutlicher werden, als unbedingt notwendig. Wenn dein Großvater stolz auf dich sein soll und du weiterhin an dieser Schule bleiben möchtest, tust du, was ich von dir verlange.«
»Und wenn ich Nein sage?«
Tames Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.
»Was für eine alberne Frage. Wenn du nicht tust, was ich sage, findet unsere Freundschaft ein sehr jähes Ende. Und du willst doch, dass ich auch weiterhin dein Freund bin, oder, April?«
April wollte am liebsten etwas ganz anderes: Am liebsten hätte sie sich auf ihn gestürzt und ihm seinen mageren Hals umgedreht. Sie wollte nichts mit Dr. Charles Tame und seinen »neuen Methoden« zu tun haben. Andererseits hatte er völlig recht: Sie konnte nicht ablehnen, da sie es nicht riskieren konnte, von der Schule zu fliegen; nicht jetzt, wo sie der Wahrheit so nahe war. Nein, sie musste mitspielen, besser gesagt, sich tot stellen. In diesem Moment hatte sie eine Idee.
»Gut, nur eines noch.«
»Und zwar?«
»Wie war das neulich? Sie sagten, Sie wollen die Hausaufgaben abschaffen. Na ja, bei all der Extraarbeit, die in nächster Zeit auf mich zukommt, wäre es vielleicht ganz sinnvoll, wenn Sie mit meinen Lehrern reden würden. Vielleicht könnten sie dafür sorgen, dass meine Noten ein bisschen besser werden. Das würde ein wenig Druck aus der Sache herausnehmen.«
Wie erwartet, schien Tame entzückt über ihre Bitte zu sein. Unaufrichtigkeit, Manipulation – das war sein Metier. Wenn April bereit war, sich ihren Abschluss zu erschummeln, hatte er sie vollends in der Hand und konnte sie ungeniert für seine Zwecke einspannen.
»Ich denke, das lässt sich machen«, meinte er und hielt die Tür auf. »Oh, einen Moment noch«, sagte er und zog etwas aus seiner Hosentasche. »Das hier wirst du brauchen. Damit es alle sehen können.«
April nahm ihm den Gegenstand aus der Hand. »Schulsprecherin« stand auf dem emaillierten Messinganstecker.
Zehntes Kapitel
H ey, Süße«, sagte Ling und stemmte eine Hand in die Hüfte. »Sieht gut aus.«
April unterdrückte ein Stöhnen. Sie hatte versucht, unbemerkt das Schulgebäude zu verlassen, da eine Begegnung mit Ling und den anderen Blutsaugern so ziemlich das Letzte war, wonach ihr nach ihrem Gespräch mit Doctor Death der Sinn stand. Aber es gab kein Entrinnen: Ling stand mit Chessy, Simon und einem Grüppchen Möchtegern-Schlangen direkt vor dem Tor, an dem April vorbeimusste, wenn sie das Schulgelände verlassen wollte.
»Hi, Ling, wie geht’s?« April zwang sich zu einem Lächeln.
»Superklasse, Schatz, genauso wie dir.«
Nicht zum ersten Mal wusste April nicht recht, wie sie Lings Verhalten einschätzen sollte. Ob sie ihre Verwandlung bereits hinter sich hatte? Doch auf den zweiten Blick erkannte sie, dass Ling sich zwar bis zum Anschlag aufgebrezelt hatte – Falten-Mikromini, blütenweiße Bluse, deren oberste drei Knöpfe offen standen, und schwarze Wildlederstilettos –, unter all dem kunstvoll aufgetragenen Make-up jedoch immer noch die Reste ihrer Aknenarben zu erkennen waren. Vampire haben keine Pickel , dachte sie.
Chessy trat vor. »Wo ist denn deine kleine Freundin Davina heute?«, fragte sie mit einem Anflug von Sarkasmus in der Stimme.
Mit gespielter Gleichgültigkeit zuckte April die Achseln. Davina war unüberhörbar nicht mehr Teil der Clique, und wenn April dazugehören wollte, wie Tame es von ihr verlangte, musste sie sich notgedrungen auf ihre Spielchen einlassen.
»Keine Ahnung«, antwortete sie. »Ich habe sie nicht gesehen.«
»Vielleicht ist sie ja krank, oder was meint ihr, Mädels?«, fragte Chessy in die Runde, was die anderen mit zustimmendem Gelächter quittierten.
»Also, mich macht sie jedenfalls krank, so viel steht fest«, warf Ling ein. »Und es sieht ganz so aus, als hätten wir eine neue Anführerin, was, Herzchen?«
April wandte sich Simon zu, der die Hand ausstreckte und den »Schulsprecher«-Anstecker berührte. »Gefällt mir, April«, sagte er ganz
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